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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Ambitionierte Ziele statt Zuckerkosmetik

Barbara Bitzer, Geschäftsführerin Deutsche Diabetes Gesellschaft
Barbara Bitzer, Geschäftsführerin Deutsche Diabetes Gesellschaft Foto: Dirk Deckbar

YouTube, Social Media und im Fernsehen: Kinder und Jugendliche sind täglich Produktwerbung für Zuckerbomben und Dickmacher ausgeliefert. Die Politik reagiere verhalten, die Adipositas- und Diabeteswelle wachse ungebremst, meint Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft.

von Barbara Bitzer

veröffentlicht am 10.05.2021

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Gut gelaunt strahlt er in die Kamera und begrüßt seine Follower mit einem fröhlichen „Hi ihr Lieben, ich bin’s wieder und ich habe heute eine ganz besondere Challenge für euch!“, während sich vor ihm Chipstüten in allen denkbaren Geschmacksvariationen stapeln. Unser YouTube-Star hat sein neuestes Video hochgeladen und testet – natürlich ganz exklusiv für seine Fans –, wie es ist, sich 24 Stunden nur von Chips zu ernähren. Und das Beste: Seine Fans können ein ganz tolles Testpaket aller verkosteten Sorten gewinnen, wenn sie das Video liken – natürlich in Zusammenarbeit mit dem Chipshersteller. Unglaublich, aber wahr: Solche Videos auf den einschlägigen Plattformen haben teilweise mehr als eine Million Klicks und ihre Stars mehrere hunderttausend Follower. Kinder und Jugendliche derart zum Konsum von ungesunden Lebensmitteln zu animieren, ist in Deutschland noch immer erlaubt. Egal, ob in den sozialen Netzwerken, im Internet oder im Fernsehen: Produktwerbung für Zuckerbomben und Dickmacher erreicht beinahe jedes Kinderzimmer.  

Erschreckende Zahlen: Kinder sehen täglich über 15 Spots für ungesunde Lebensmittel und 92 Prozent der von Kindern gesehenen Werbung ist für Süßes, Snacks und Fast Food, wie eine aktuelle Studie der Universität Hamburg ergab, die von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) gemeinsam mit dem AOK-Bundesverband und der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) in Auftrag gegeben wurde. Deutlich wurde neben einer steigenden Frequenz derartiger Werbung im Fernsehen auch die stark wachsende Bedeutung von YouTube und Facebook als Werbeplattform – und dass trotz der hehren Selbstverpflichtung der Industrie.

Kein Wunder, dass die Adipositas- und Diabeteswelle ungebremst anwächst, wenn die Grundlagen für eine ungesunde Ernährung schon bei den Kleinsten gelegt werden und die Politik zuschaut. Studien belegen eindeutig, dass Werbung unsere Kinder dazu animiert, deutlich mehr Kalorien zu sich zu nehmen als notwendig und auch das gute Vorbild ernährungsbewusster Eltern aushebelt. Und das hat „gewichtige“ Auswirkungen: Bereits heute ist jedes siebte Kind in Deutschland zu dick. Wer als Kind übergewichtig ist, ist es zumeist auch als Erwachsener – mit gravierenden Folgen für die Gesundheit und hohen Kosten für unser Solidarsystem. Das kann und darf nicht im Interesse der Politik sein. 

Tabakwerbeverbot als Vorbild

Immerhin: Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) hat das Problem der Werbeflut in Kinderzimmern erkannt und will gegensteuern. Allerdings bleiben ihre Versuche halbherzig. So hat sie gemeinsam mit dem Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) jüngst verkündet, den Schutzkreis bei Kinderwerbung von 12 auf 14 Jahre anzuheben und bei Werbung künftig auf die Nennung positiver Eigenschaften ungesunder Lebensmittel verzichten zu wollen. Sollte diese freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie (erwartungsgemäß) scheitern, sieht sie nicht sich, sondern die Bundesländer in der Pflicht, Verhaltensregeln im Staatsvertrag zu regeln.

Liebe Ministerin, die Verantwortung einfach weiterzureichen, ist keine konsequente Lösung! Dabei hat es das bundesweite Tabakwerbeverbot vorgemacht! Seit Januar 2021 ist Werbung für Zigaretten nun auch in Kinos verboten – ab 2022 wird sie zudem von Plakaten an Haltestellen verbannt. In Zeitungen, Fernsehen und auch im Internet sucht man Tabakwerbung bereits länger vergeblich. Warum wichtige Zeit verlieren? Wir wissen doch längst, dass unnötige Kalorienbomben ähnlich gesundheitsgefährdend sind wie das Rauchen.

Zu viel Zucker, Fett und Salz: Fertiglebensmittel auf dem Prüfstand

Wie schwierig es ist, sich gesund und bewusst zu ernähren, zeigen auch die neuen Ergebnisse des aktuellen NRI-Produktmonitorings. Im Rahmen dieser Untersuchung wurde der Zucker-, Fett- und Salzgehalt in einigen Produktgruppen überprüft. Ende April stellte die Bundesernährungsministerin die Resultate der jüngsten Untersuchung vor und bescheinigte sich weitere Fortschritte im Kampf gegen ungesunde Lebensmittel. So stellte das mit der Untersuchung beauftragte Max Rubner-Institut unter anderem weniger Zucker in Müsliriegeln oder Fruchtschnitten fest. Ein kleiner Achtungserfolg in Teilbereichen –  aber kein großer Wurf. Weiterhin setzt die Politik auf die freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie, stärker auf den Zusatz von Zucker oder Fett zu verzichten.

Wir brauchen aber keine Zuckerkosmetik, sondern ambitionierte Ziele und verbindliche Regeln zur Reduktion von Zucker, Fetten und Salz in Fertiglebensmitteln. Das kann nur erreicht werden, wenn die Politik die Hersteller endlich in die Pflicht nimmt und nicht applaudiert, wenn ein Stückchen Würfelzucker weniger in der Cola ist.

Mehr Anreize für gesunde Ernährung

Es geht nicht darum, Hamburger, Süßigkeiten oder Chips gänzlich zu verbieten und aus der Angebotspalette zu verbannen. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Versuchungen für ungesunde Snacks ungebremst direkt in die Kinderzimmer transportiert werden. Übergewicht darf nicht zum neuen Normalgewicht werden! Unser Staat regelt so viel: Kinder müssen einen Sicherheitsgurt anlegen, wenn sie ins Auto steigen, ab einem bestimmten Alter in die Kita gehen und gegen Masern geimpft werden. Bei Werbung für nachweislich ungesunde Lebensmittel und Gefährdung der Gesundheit, ist aber offenbar alles erlaubt.

Wir brauchen starke Anreize für gesunde Ernährung und weniger Versuchungen für Ungesundes – ein gesetzliches Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel wäre ein wichtiger Meilenstein. Natürlich wird das allein die Adipositaswelle nicht stoppen. Es braucht ein Bündel an Maßnahmen – von einem verpflichtenden Nutri-Score für alle Lebensmittel über eine nach Nährwerten gestaffelte Mehrwertsteuer (mit einer Steuerentlastung gesunder Produkte) bis hin zu einer verpflichtenden Stunde Bewegung in Kita und Schule pro Tag. Nur so können wir Übergewicht bei Kindern, damit verbundenes Leid sowie die hohen Kosten für das Gesundheitssystem stoppen. 

Barbara Bitzer ist Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft und Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK).

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