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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Der Streit um die Impfung der Kinder

Urban Wiesing, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Uni Tübingen
Urban Wiesing, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Uni Tübingen Foto: privat

Die Stiko darf keine politischen Entscheidungen fällen, die Bundesregierung muss es. Schaut man sich die Konzeption beider Institutionen an, dann ist es gar nicht mehr so verwunderlich, wenn sie etwa bei Corona-Kinderimpfungen zu unterschiedlichen Aussagen kommen, erklärt der Medizinethiker Urban Wiesing.

von Urban Wiesing

veröffentlicht am 16.08.2021

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Es dürfte für viele Menschen verwirrend sein. Wir befinden uns in der schwersten Krise seit dem 2. Weltkrieg. Und da taucht dann auch noch die Frage auf, ob wir unsere Kinder ab 12 Jahren gegen Covid-19 impfen sollen oder nicht? Die Angelegenheit ist wichtig. Schließlich könnte der Schulbesuch davon abhängen. Nicht nur Eltern hätten hier gerne eine klare, fundierte Empfehlung. Doch genau die gab es nicht.

Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat sich mit einer Empfehlung zurückgehalten. Es lägen noch nicht genügend Untersuchungen vor, um eine Empfehlung aussprechen zu können. Anders hingegen die Bundesregierung: Sie empfahl die Impfung für Kinder ab 12 Jahren. Die Verwirrung ist groß, bei manchen gar der Ärger. Können sich die beiden Institutionen in dieser Frage – bitte schön – nicht einigen?

Es lässt sich nachvollziehen, dass Bürger über diese Situation wenig begeistert sind. Aber sie lässt sich erklären und sie zeigt, in was für einer Gesellschaft wir leben. Denn beide Institutionen sind von Anlage und Auftrag her ganz unterschiedlich. Die STIKO ist ein unabhängiges wissenschaftliches Gremium, das die Aufgabe hat, Empfehlungen anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen auszusprechen. Nicht zu vergessen: Die STIKO ist kein Verfassungsorgan. Sie darf keine politischen Entscheidungen fällen. Ganz im Gegenteil zur Bundesregierung, die politische Entscheidungen fällen muss. Diesen Auftrag gibt ihr die Verfassung. Schaut man sich die Konzeption beider Institutionen an, dann ist es gar nicht mehr so verwunderlich, wenn sie zu unterschiedlichen Aussagen kommen. Im Gegenteil, es spricht für die Unabhängigkeit der STIKO, dass sie unbeirrt Anderes sagt als die Bundesregierung, von der sie ja immerhin ihren Auftrag hat.

Grundlegendes Problem

Man muss auch genau hinschauen, was die STIKO sagt: Sie könne noch keine Empfehlung geben, weil nicht genügend Daten zur Verfügung stünden. Damit rät sie nicht von einer Impfung ab, sondern sagt nur, dass die Datenlage derzeit für eine Empfehlung nicht hinreicht. Die Bundesregierung will aber nicht warten, bis weitere Daten zur Verfügung stehen, und empfiehlt unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Impfung. Die STIKO äußert sich vor allem über den wissenschaftlichen Stand der Erkenntnisse. Die Bundesregierung entscheidet angesichts dessen und der politischen Situation.

Das Vorkommnis verweist auf ein grundlegendes Problem, das lange bekannt ist, aber in der Pandemie mit aller Deutlichkeit sichtbar wurde: auf den Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik. Wissenschaft kann die Welt beschreiben, wie sie ist. Sie kann auch Aussagen darüber treffen, wie sie sich vermutlich entwickeln wird. Sie liefert das beste verfügbare, methodisch ausgewiesene Wissen, überprüftes und jederzeit überprüfbares Wissen. Aus einer wissenschaftlichen Aussage folgt allerdings nicht zwingend eine politische Handlung. Denn Wissenschaft kann nicht sagen, wie man politisch handeln soll. Dazu fehlen ihr die methodischen Voraussetzungen.

Als Wissenschaft kann sie die Gültigkeit eines politischen Wertes oder einer politischen Norm nicht ausweisen, denn das sind politische und keine wissenschaftlichen Entscheidungen. Wenn sie Empfehlungen gibt, dann muss sie sich stets auf Annahmen berufen, deren Gültigkeit sie als Wissenschaft nicht ausweisen kann. Konkret gesprochen kann Wissenschaft sagen, dass eine bestimmte Handlung zu empfehlen ist, wenn man die Würde des Menschen als oberstes politisches Prinzip verfolgt. Dass die Würde des Menschen das oberste Prinzip der Politik sein soll, ist keine wissenschaftliche Aussage, sondern eine politische Entscheidung.

Handeln unter Zeitdruck

Politische Institutionen hingegen befinden sich in einer ganz anderen Situation. Sie können häufig nicht warten, bis wissenschaftliche Erkenntnisse hinreichend vorhanden sind. Sie können es nicht bei Wenn-Dann-Aussagen belassen, sondern sie müssen handeln. Zumeist unter Unsicherheit, häufig bei wechselnden Erkenntnissen und in der Pandemie zudem unter enormen Zeitdruck. Dass eine solche Institution zu anderen Empfehlungen kommt als eine wissenschaftliche Institution, ist so betrachtet nicht ungewöhnlich. Im Gegenteil, es ist angelegt in den Unterschieden dieser beiden Institutionen. Die unterschiedlichen Aussagen zur Kinderimpfung eignen sich nicht zum Skandal.

Nun wird das die Menschen wenig trösten, sondern weiterhin verunsichern. Wie gerne hätte man doch eine klare, von Wissenschaft und Politik gemeinsam getragene Empfehlung zur Frage, ob man die Kinder impfen soll! Aber das ist nun mal der Preis der Moderne. Sie zeichnet sich durch funktionale Differenzierungen aus, durch Arbeitsteilung, unterschiedliche Zuständigkeiten, unterschiedliche Perspektiven von unterschiedlichen Institutionen und dementsprechend unterschiedliche Aussagen und Aussagemöglichkeiten. Kurzum: Es ist ziemlich komplex in der Moderne! Das Gegenteil wäre eine Diktatur der Wissenschaft oder der Philosophenkönige, wie sie Platon vorgeschlagen hat. Aber genau das können wir uns doch nicht ernsthaft wünschen. Also müssen wir lernen zu unterscheiden zwischen einer wissenschaftlichen Aussage und einer politischen Entscheidung.

Es zeigt sich einmal mehr, die Moderne ist eine permanente Herausforderung und die Sachverhalte sind nicht selten höchst unübersichtlich. Politische Entscheidungen sind häufig geprägt von Ungewissheit. Das wusste man auch schon vorher, aber nun wird es noch einmal besonders deutlich.

Prof. Urban Wiesing ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

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