In den letzten Jahren hat sich die personalisierte Medizin rapide weiterentwickelt. Innovative Therapien und Versorgungskonzepte revolutionieren unsere Herangehensweise an Gesundheitsfragen und die individuellen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten. Trotz der immer stärker individualisierten Therapieansätze findet ein evidenter Aspekt in der Forschung und Versorgung immer noch zu wenig Berücksichtigung: das Geschlecht.
Historisch betrachtet ist die Medizin stark von einem androzentristischen Ansatz geprägt. Der „Durchschnittsmensch“ in der Medizin war lange Zeit der Mann und Erkenntnisse wurden oft vereinheitlicht auf Frauen übertragen. Doch warum ist die Differenzierung überhaupt notwendig?
Frauen und Männer: Nicht nur verschiedene Chromosomen
Frauen und Männer haben unterschiedliche Risiken für bestimmte Erkrankungen. Frauen leiden häufiger unter Autoimmunerkrankungen und sind statistisch gesehen anfälliger für Depressionen sowie Angststörungen. Eine mögliche Erklärung: hormonelle Veränderungen während der Schwangerschaft und der Menopause können Einfluss auf die psychische Gesundheit haben. Männer werden dagegen in Fällen von Depression oder Osteoporose, also Krankheiten, die typischerweise als „weiblich“ assoziiert sind, oft später diagnostiziert und behandelt. Sie haben immer noch eine kürzere Lebenserwartung, aber relativ gesehen mehr gesunde Lebensjahre. Auch die Symptomatik kann sich bei ein und derselben Erkrankung erheblich unterscheiden. Während Männer bei einem Herzinfarkt etwa häufig Brustschmerzen haben, können Frauen eher Atemnot, Übelkeit oder extreme Müdigkeit verspüren. Unterschiedliche Stoffwechselraten und Schmerzschwellen bei Frauen und Männern haben große Relevanz auf Wirksamkeit und Verträglichkeit von Arzneimitteln und bleiben dennoch häufig unberücksichtigt.
Auch der Blick auf Forschungsschwerpunkte zeigt, dass es ein Ungleichgewicht gibt. Beispielsweise gibt es fünfmal mehr Studien zu erektiler Dysfunktion als zu PMS (Prämenstruelle dysphorische Störung). Dabei leiden „nur“ 19 Prozent der Männer an einer Dysfunktion, während 90 Prozent aller Frauen von PMS betroffen sind.
Ein Mann oder eine Frau zu sein ist damit aus gesundheitlicher Sicht durchaus relevant, und zwar über die gesamte Lebensspanne hinweg. Der sogenannte Gender-Bias führt bis heute zu verzögerten Diagnosen, inadäquater Prävention und verfehlter Versorgung. Deswegen müssen Geschlechterperspektiven dringend flächendeckend Einzug in die Versorgung halten. Genau hier setzt das Forschungsgebiet der Gendermedizin an.
Realitätslücken und Implikationen für die Gesundheitspolitik
Trotz der Fortschritte in der Gendermedizin gibt es noch eine erhebliche Kluft zwischen Theorie und Praxis. Dadurch verschenken wir Tag für Tag präzisere Diagnosen und Therapien sowie effektive Prävention. Die Stärkung der Gendermedizin hat somit nicht nur einen individuellen, sondern auch einen gesamtgesellschaftlichen Aspekt. Die Verbesserung der Gesundheit von Frauen und Männern schafft bessere Gesundheitsoutcomes und eine höhere Lebensqualität für alle. Das enorme volkswirtschaftliche Potenzial lässt sich nur erahnen.
Als Politik stehen wir in der Verantwortung, zu prüfen, welche rechtlichen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen angepasst werden müssen, damit geschlechtersensible Medizin in der Versorgung und Forschung zum Tragen kommt.
Benötigt werden eine intensivierte Forschungsförderung, die Berücksichtigung der geschlechtersensiblen Medizin in Aus- und Weiterbildungsprogrammen für die (angehende) Ärzteschaft und das Gesundheitspersonal sowie eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung für das Thema. Genauso sollten Fachleute aus der Gendermedizin bei der Entwicklung von Richt- und Leitlinien der Selbstverwaltung und Fachgesellschaften herangezogen werden.
Mit Blick auf medizinische Register, Datenerhebung und Digitalisierung der Versorgung erscheint eine Verpflichtung zu geschlechtsspezifisch disaggregierten Daten in klinischen Studien und Patientenregistern sinnvoll. Die fehlende Repräsentativität von Frauen darf sich in der Anwendung von Künstlicher Intelligenz in der Medizin auf keinen Fall reproduzieren. Und auch eine geschlechtersensible Personalpolitik spielt eine Rolle, wenn es um eine bedarfsgerechte Versorgung geht. Bei der Förderung von Geschlechterdiversität in Führungspositionen der Selbstverwaltung haben wir großen Nachholbedarf. Ein mangelndes Bewusstsein für Geschlechterunterschiede erhöht auch hier die Gefahr einer Fehlversorgung für Frauen. Die Umsetzung der bisherigen Erkenntnisse erfordert eine konzertierte Aktion der politischen Entscheidungsträger, Selbstverwaltung, Leistungserbringer, Forschungseinrichtungen und der Zivilgesellschaft.
Als FDP-Bundestagsfraktion setzen wir Gendermedizin auf die politische Agenda. Dabei fokussieren wir uns auf den Abbau von bisherigen Bias zulasten von Frauen. Am 14. März 2024 startet unter meiner Federführung die Initiative Frauengesundheit im Fokus: Wie die Politik die Gesundheit von Frauen stärker in den Blick nehmen muss. Die Auftaktveranstaltung widmet sich dem Thema „Warum Gleichbehandlung in der Gesundheitsversorgung ungerecht ist“. Dazu diskutieren wir mit ausgewiesenen Expertinnen im Bereich Gendermedizin und Frauengesundheit.
Es ist an der Zeit, die Gleichbehandlung in der Gesundheitsversorgung hinter uns zu lassen und eine Medizin für alle zu schaffen – mit Blick auf die Unterschiede.
Christine Aschenberg-Dugnus ist Parlamentarische Geschäftsführerin und Gesundheitsexpertin der FDP-Bundestagsfraktion.