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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Mehr Wissen über Frauengesundheit

Medizin im 21. Jahrhundert vernachlässigt immer noch die Genderperspektive – sowohl in der Forschung als auch in der Praxis. Die Kardiologin und Gendermedizinerin Vera Regitz-Zagrosek sagt: Forschung und Aufklärung müssen sich deutlich verbessern – auch bei den Patientinnen.

von Vera Regitz-Zagrosek

veröffentlicht am 17.11.2020

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Ein Schock am Sonntag. Eine gute Freundin, 72 Jahre, pensionierte Lehrerin, gesund, sportlich, glückliche Familie, verstarb plötzlich. Unter ihren Hinterlassenschaften fand sich ein Zettel, auf dem sie ihre Beschwerden aufgeschrieben hatte, mit denen sie in der nächsten Woche zu ihrer Ärztin gehen wollte: es waren die klassischen Vorboten eines Herzinfarktes. Obwohl die Frau sich immer für Gesundheitsthemen interessiert hatte, war ihr nicht bewusst, wie gefährdet sie aufgrund ihrer Beschwerden eigentlich gewesen war. Immer noch wissen Frauen zu wenig, wie sehr sie durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen gefährdet sind. Immer noch hält man Herzinfarkte fälschlicherweise für Männersache.

Immer noch erkennen Frauen die Warnzeichen für einen Herzinfarkt nicht. Häufig vorhandene frauentypische Beschwerden wie extreme Müdigkeit, Schwäche, aber auch Druckgefühl im Brustkorb oder im Oberbauch, Schweißausbrüche und Schulterschmerzen werden fehlinterpretiert. Tatsächlich entwickeln Frauen die klassischen Herzinfarkte insgesamt 6 bis 8 Jahre später als Männer. Da sie aber länger leben, ist die Gesamtzahl der Infarkte bei Frauen und Männer mittlerweile fast gleich. Zugleich wird klar, dass es neben den klassischen Infarktmechanismen bei Männern auch frauentypische gibt, die bisher unterschätzt wurden. Da Frauen die Gefahr durch Infarkte immer noch nicht angemessen wahrnehmen, kommen sie oft später zur Behandlung und die Sterblichkeit ist hoch. Ähnliches gilt für Schlaganfälle. Sie werden bei Frauen häufig unterschätzt, verlaufen oft schwerer und führen zu stärkeren Beeinträchtigungen als bei Männern.

Diabetes, Vorhofflimmern, Schwangerschaftshochdruck, (Prae)eklampsie, Eierstockentfernung, Frühgeburten und vorzeitige Menopause sind frauenspezifische Risikofaktoren, aber als solche noch zu wenig bekannt. Frauen entwickeln klassische Risikofaktoren wie Bluthochdruck selten vor dem Alter von 50 bis 60 Jahren, aber sehr häufig danach.

Ungleichheit beginnt bei Studiendesign

Eine gemeinsame Analyse von fünf großen Studien zur Diabetestherapie (46.000 Patient*innen) zeigte 2020 erschreckende Ergebnisse: Insgesamt waren nur ein Drittel Frauen eingeschlossen und die Frauen hatten vor Studienbeginn häufiger Schlaganfälle, Herzschwäche und chronische Nierenerkrankungen als Männer. Bei Ihnen lagen häufiger höhere Blutdrucke und hohe Blutfette vor. Sie erhielten seltener die richtige Therapie: Statine, Aspirin, Beta-Blocker. 

Andere Studien weisen darauf hin, dass die Dosierungen wichtiger Herz-Kreislauf-Medikamente bei Frauen dringend überprüft werden müssen: Wahrscheinlich brauchen sie weniger als Männer. Welche Dosen Frauen wirklich brauchen, wird in den vorhandenen Studien nur unzureichend getestet. Darüber hinaus wird bei der Untersuchung neuer Medikamente häufig nicht darüber berichtet, dass sie bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken und auch unterschiedliche Nebenwirkungen haben können. Weniger als 12 Prozent der Arzneimittelstudien berichten Nebenwirkungen getrennt für Männer und Frauen, wie eine aktuelle Untersuchung zeigt. Und noch schlimmer: mehrere große Studien zu einer neuen Therapie bei Herzinfarkt schlossen nur 20 Prozent Frauen ein, und wiesen nicht darauf hin, dass die Wirkung des Medikaments, die bei den Männern sehr gut war, in der Frauengruppe nicht nachweisbar war.

Gendermedizin entwickelte sich Ende des letzten Jahrhunderts aus der frauenspezifischen Medizin in den USA. Frauenvertreterinnen forderten dort in den 1980er und 1990er Jahren einen besseren Einschluss der Frauen in klinische Studien. 2002 und 2003 wurden Zentren für Gendermedizin an der Charité in Berlin, in Stockholm und Wien gegründet, die die Unterschiede zwischen Frauen und Männern und geschlechterspezifische Therapieansätze thematisierten. Dies geschah zuerst im Bereich der Herz-Kreislaufmedizin, wo eine Übersterblichkeit der jüngeren Frauen bei Herzinfarkten und Herzoperationen auffiel.

Lücke beim Wissen über genderspezifische Dosierungen

Später wurden die Ansätze auch auf andere Gebiete der Medizin übertragen. Wichtige Geschlechterunterschiede fanden sich bei Angsterkrankungen, Sucht und Depressionen, bei der Osteoporose, bei Autoimmunerkrankungen und Krebs. Dabei waren die Frauen nicht immer das benachteiligte Geschlecht. Krebserkrankungen betreffen häufiger Männer, Autoimmunerkrankungen häufiger Frauen. Depressionen und Osteoporose werden bei Männern häufig übersehen.

Aktuell steht im Zentrum der Gendermedizin, neben den geschlechtsspezifischen Aspekten bei Covid-19, die Arzneimittelforschung. Die Konzeption und Dosierung neuer Medikamente – und Impfungen – muss schon bei der Entwicklung besser für die Frauen angepasst werden. Bei Mitteln gegen Herzschwäche und Bluthochdruck zeichnet sich ab, dass sie bei Frauen häufig überdosiert werden. Daneben ist die Integration der soziokulturellen Dimension Gender ein aktuelles Thema. Neben der Biologie kann Gender, also soziokulturelle, psychosoziale und sozioökonomische Prägungen, zu Unterschieden in Gesundheit und Krankheit zwischen Männern und Frauen beitragen. Gender beeinflusst über Lebensbedingungen und Interaktionen der Umwelt mit unserem Organismus unseren Gesundheitszustand und Krankheitsverlauf, beeinflusst die Sterblichkeit nach Herzinfarkten und das Verhalten in der Prävention. Gendermedizin untersucht, wie Sex- und Gender-bedingte Mechanismen und Verhaltensmuster eine sinnvolle Prävention und bessere Therapie ermöglichen.

Universitäten und Gesundheitspolitiker, Ärzt*innen und ihre medizinischen Fachgesellschaften müssen mehr über Geschlechterunterschiede wissen, um medizinische Behandlung zu optimieren. Aber vor allem müssen die Patientinnen mehr wissen, um die richtigen Fragen zu stellen und zu überleben.

Vera Regitz-Zagrosek, ist Kardiologin und Gendermedizinerin an der Charité Berlin und der Universität Zürich. Ihr aktuelles Buch: Gendermedizin oder warum Frauen eine andere Medizin brauchen (Scorpio Verlag, München). Sie referiert heute auf der 4. Bundeskonferenz Frauengesundheit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und des Bundesministeriums für Gesundheit.

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