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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung

Foto: Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) leitet seit Januar 2022 den Gesundheitsausschuss im Bundestag als stellvertretende Vorsitzende (Foto: Thomas Trutschel).

Körperliche Unterschiede und genderbezogene Zuschreibungen wirken sich in der Medizin in vielfältiger Weise aus, erklärt die Sprecherin für Gesundheitsförderung von Bündnis 90/Die Grünen, Kirsten Kappert-Gonther.

von Kirsten Kappert-Gonther

veröffentlicht am 10.02.2020

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Frauen haben ein höheres Risiko nach einer Operation am Herzen zu sterben, wenn sie von einem Mann behandelt wurden. Andersrum besteht der Effekt nicht. Körperliche Unterschiede und genderbezogene Zuschreibungen wirken sich in der Medizin in vielfältiger Weise aus. Depressionen werden bei Frauen häufiger behandelt als bei Männern. Unklar ist, ob für Frauen ein höheres Risiko für Depressionen besteht oder ob seelische Erkrankungen bei Frauen eher erkannt werden. Ein Hinweis auf die Tragweite des Einflusses von Gender ist, dass obwohl weniger Männer, mit Depressionen in Behandlung sind, mehr von ihnen Suizid begehen. Die Ausprägungen und Symptome unterscheiden sich bei vielen Krankheiten. Asthma wird bei Mädchen später diagnostiziert als bei Jungen, weil sie seltener die „typischen“ pfeifenden Laute beim Atmen von sich geben, sondern oft nur einen trockenen Husten haben. Viele Medikamente haben bei Frauen mehr Nebenwirkungen, weil sie Wirkstoffe anders, meistens langsamer, abbauen als Männer oder weil die Medikamente für Frauen schlicht zu hoch dosiert werden. In einer im Lancet veröffentlichten Studie wurde festgestellt, dass die Dosis von Mitteln im Fall einer Herzinsuffizienz halbiert werden konnte, ohne dass den Frauen daraus Nachteile entstanden, im Gegenteil hat sich das Risiko für sie sogar um 30 Prozent verringert. Dies sind einige von vielen Beispielen: wie wir krank werden und wie es um unsere medizinische Versorgung steht, hängt davon ab, welches Geschlecht wir haben.   

Männer werden als Norm dargestellt

Der Anatomie-Atlas: Hiernach lehren und lernen Deutschlands Mediziner*innen. Hunderte von Seiten, Männerkörper überall – auch an fast allen Stellen, wo weibliche oder nicht geschlechtlich zuzuordnende Körper genauso gut zur Illustration dienen würden. Der männliche Körper und „der Mann“  werden als Norm wieder und wieder vorgehalten, mit gravierenden Auswirkungen für die Gesundheit von Frauen, von nichtbinären Menschen sowie von trans Frauen und trans Männern. Die Problemanzeigen „Wo sind die Frauen?“ und „Vertraut Frauen!“ hallen durch Politik und Gesellschaft – und müssen dringend ein Echo in Gesundheitsforschung und in der Lehre finden. Das hat in Ansätzen offenbar endlich auch die Bundesregierung erkannt, die über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ein Förderprogramm im Bereich der geschlechtsspezifischen Prävention ausgeschrieben hat.

Es muss aber weitergefasst darum gehen, eine Gesundheitsversorgung  mit echter Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, Unterschiede zu benennen ohne sich von Stereotypen leiten zu lassen und Diskriminierung zu beenden. Dafür brauchen wir klare Vorgaben. Die Erkenntnis, dass ein Medikament bei Frauen anders wirkt, können wir nicht dem Zufall überlassen. Selbst wenn Frauen zu gleichen Teilen als Probandinnen in Arzneimittelstudien einbezogen werden, erfolgt bisher keine standardisierte geschlechtsspezifische Auswertung, sodass Erkenntnisse wie zum Beispiel bei einem vielverordneten Schlafmittel, das bei Frauen in der empfohlenen Dosis auch nach einer ausführlichen Nachtruhe noch zu einem deutlich herabgesetzten Reaktionsvermögen führte, oft der Aufmerksamkeit der jeweiligen Forscher – und vor allem Forscherinnen – zu verdanken sind. Auch Männer würden gesundheitlich profitieren, wenn wir genauer hinhörten und hinguckten. Brustkrebs bei Männern wird zum Beispiel oft später entdeckt.  

Gender-Brille aufsetzen 

Dank jahrzehntelanger feministischer Kritik und Forschung hat die Gesundheitspolitik längst keine Entschuldigung mehr dafür, die Vielfältigkeit der Menschen nicht systematisch zu berücksichtigen. Dass tatsächlich zu tun, ist aber weiterhin eine Herausforderung. Für die Forschung zum Beispiel müssen validierte Methoden und Instrumente her, die Forscher und Forscherinnen und Praktiker und Praktikerinnen anhalten, nicht einfach vom Mann auf die Frau schließen. Wie unterscheiden sich Frauen und Männer sowohl körperlich, als auch in ihrer Sozialisation und den gesellschaftlichen Erwartungen, die ihr zugrunde liegen? Die Genderforschung liefert wichtige Anhaltspunkte, damit genderbezogene soziokulturelle Einflüsse auf unser Gesundheitsverhalten endlich  mitgedacht werden. Diese Erkenntnisse müssen stärker als bisher selbstverständlicher Teil der Medizin werden, in Forschung, Lehre und Versorgung. 

Volle Kraft voraus für Spitzenfrauen und Gendergesundheit 

Frauen sind Leitungsfunktionen im Gesundheitssystem eklatant unterrepräsentiert, das hat auch die Bundesregierung bestätigt, nachdem dies durch eine Anfrage der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen detailliert abgefragt wurde. In den Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens kommen auf eine Frau neun Männer. Und dies, obwohl Frauen in den Gesundheitsberufen und der Gesundheitsadministration die Mehrheit der Mitarbeitenden stellen. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch unklug. Die mangelnde Repräsentanz ist ein Grund dafür, dass die rechtlichen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen für geschlechtsspezifische Ansätze der Gesundheitsversorgung und -forschung in Deutschland noch in den Kinderschuhen stecken. Vor diesem Hintergrund hat sich die Initiative Spitzenfrauen Gesundheit gegründet mit dem Ziel der paritätischen Repräsentanz von Frauen in Leitungsfunktionen in Gremien der Selbstverwaltung und perspektivisch im gesamten Gesundheitssystem, das Professorinnen und Chefärztinnenpositionen umfasst. Fähige und entschlossene Frauen prägen schon heute das Gesundheitswesen, aber ohne gesetzliche Vorgaben und eine staatliche Rechenschaftspflicht verbessert sich der Frauenanteil in Vorständen und Führungspositionen der Ärztekammern, Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen sowie bei vielen weiteren entscheidenden Akteuren nur zögerlich. Wir brauchen eine Gender-Brille statt blinder Flecken auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung.  

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