Die nackten Zahlen des Bundeshaushaltes für 2024 signalisieren, dass uns Gesundheit ein Drittel weniger wert ist als zuvor. Die Sondereffekte der Pandemie müssen natürlich beachtet werden, aber dass dem Gesundheits- und Pflegewesen – kurz für die Gesundheit – drei bis vier Milliarden Euro Steuermittel weniger zur Verfügung stehen, zeigt den Bedeutungsverlust der Gesundheit. Ein Blick auf die aktuellen Debatten in der Gesundheit stößt auf eine Begriffswelt, die nichts Gutes verheißt: Krankenhauslevel und Leistungsgruppen, Hybrid-DRG, Vorhaltepauschalen, Pflegegeld, Fachkräftemangel oder Heuschrecken im Gesundheits- und Pflegewesen. Wer sich tiefer mit den Themen beschäftigt, stolpert über den Fixkostendegressionsabschlag und schaltet endgültig ab. Es geht nicht um Patient:innen und ihre Bedürfnisse. Viele Diskussionen in der Gesundheitspolitik haben sich von den Menschen und ihrem Grundbedürfnis, gesund zu leben, entkoppelt.
Deutschland ist ein alterndes Land, nach Japan das älteste Land der Welt. Bei um sich greifender Multimorbidität im hohen Alter stehen alle Leistungserbringer der gesundheitlichen Versorgung bis hin zu Hilfs- und Heilmitteln, Rehabilitation und Prävention unter massivem Druck.
Der Wert des Gesundheitswesens
Bisher galt uneingeschränkt, dass wir in Deutschland eines der besten Gesundheitswesen der Welt für alle Bürger:innen bereitstellen. Unterschiede in der Versorgung soll es für niemanden geben. Der niederschwellige Zugang zur Versorgung, schnelle Bereitstellung der besten Medikamente und ein würdiges, selbstbestimmtes Leben gehören zu den Maximen unserer Gesundheitspolitik wie auch der Erhalt der Bezahlbarkeit.
Diese übergeordneten Ziele sind nicht nur in Gefahr, sondern wir wissen, dass sie im Alltag nicht mehr eingehalten werden können. Ein Besuch in einer Notaufnahme, das Warten auf einen Facharzttermin, der Kampf um Pflegegrade, Hilfsmittel und Medikamente gehören heute für viele Kranke zum Alltag. Das führt direkt zu der Frage, was uns unser Gesundheitswesen wert ist und wie wir es zukunftsfest machen wollen? Dabei ist es gerade nicht eine Frage des Geldes, die ich mit Wertschätzung anspreche, sondern Fragen der Aufmerksamkeit, der Bereitschaft zum sorgsamen Umgang mit Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, und denjenigen, die Hilfe leisten.
Verantwortliche Entscheidungen
Doch wer ist verantwortlich, wie lautet die Telefonnummer für Gesundheit? Die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern werden uns bei der laufenden Krankenhausreform nachhaltig vor Augen geführt. GKV-SV, KBV, KZBV, DKG, G-BA, MD, InEK, Gematik, Bewertungsausschuss, IQTIG, IQWIG, BfArM, PEI oder RKI mit „Ständiger Impfkommission“ – wer entscheidet was? Versicherte und Patient:innen ernst nehmen bedeutet, klare und durchschaubare Zuständigkeiten zu haben. Aber daran fehlt es. Es wird sogar immer komplizierter: Die Krankenhäuser erstellen jährlich Qualitätsberichte, das Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) ist vor sieben Jahren gegründet worden, um die Qualität auch in den Krankenhäusern transparent zu machen. Jetzt schlägt das Bundesministerium vor, zur Transparenz bei den Krankenhäusern Qualitätslevel einzuführen. Das versteht keine Patient:in mehr.
Der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag und das BMG als Exekutive kommen in diesem Spiel der Zuständigkeiten oft nur als Stichwortgeber in Form von Gesetzen und Verordnungen, die finanzielle Rahmen neu setzen sowie Aufträge und Aufgaben definieren, vor. Verantwortung für die Umsetzung und den konkreten Umgang mit Patient:innen fehlt dagegen oft.
Dass die Patientenvertreter wegen mangelnder Finanzierung kaum mitreden können, verstärkt die Problematik. Patient:innen, die einen Arzt suchen, sich über die Qualität von Einrichtungen informieren wollen oder Beratung für die Altenpflege benötigen, suchen ebenso eine Telefonnummer.
Eine Neuordnung der Entscheidungswege ist bitter nötig. Eine Gesundheitsagentur des Bundes, die Entscheidungen bündelt und Gesamtüberblick über das Geschehen im Gesundheits- und Pflegewesen hat, ist keine ganz neue Idee, könnte aber zu einer strukturellen Neuordnung führen. Bundestag und BMG hätten die Verantwortung, dass diese neue Struktur dauerhaft gelingt. Was bei der Bundesnetzagentur funktioniert, sollte auch bei der Gesundheit klappen.
Ordnung der Versicherungssysteme
Natürlich muss man auch über Geld sprechen. Der Bundeszuschuss aus Steuermitteln zum Gesundheitsfonds für versicherungsfremde Leistungen ist seit fast 10 Jahren nicht erhöht worden. Die gesetzlich Versicherten finanzieren heute über die Kassen die Gesundheitskosten der Bürgergeldempfänger. Die soziale Pflegeversicherung zahlt Beiträge zur Rentenversicherung für pflegende Angehörige. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen für Krankenpflegeleistungen der stationären Pflegeeinrichtungen pauschale Beträge. Ein Wildwuchssystem also. Im internationalen Vergleich wird auch deutlich, dass wir weiterhin ein sehr teures System finanzieren, das nicht die entsprechende Leistung erbringt.
Bringt man Ordnung in diese Zahlungsströme, würden Milliardenbeträge zusätzlich in die Kranken- und Pflegeversicherung fließen. Fast 30 Jahre nach der Einführung der Pflegeversicherung muss die Frage diskutiert werden, ob die soziale Kranken- und Pflegeversicherung zusammengeführt werden. Die älteste Generation oder außerklinische Intensivpatient:innen würden bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit aus einer Hand betreut werden. Das oft unwürdige Spiel des Hin-und-her-Schiebens der Zuständigkeit zwischen diesen beiden Systemen, die aufs engste miteinander verknüpft sind, sollte enden.
Gesundheitswirtschaft
Blicken wir auf das gesamte Gesundheits- und Pflegewesen, dann sprechen wir über eine Wertschöpfung von rund 392 Milliarden Euro in der Gesundheitswirtschaft mit einem Anteil von über zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Wir haben uns angewöhnt, in den Kategorien „gute“ und „schlechte“ Akteure des Gesundheitswesens zu denken. Alles Staatliche und Frei-gemeinnützige sei frei von eigenen Interessen und dem Gemeinwohl verpflichtet, so heißt es oft. Aber Unikliniken und ihre MVZ, kommunale und frei-gemeinnützige Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, der einzelne niedergelassene Arzt oder Zahnarzt sind auch an Gewinn interessiert, müssen es sein. Sobald aber Geldgeber in Form von Investoren, die Krankenhäuser, MVZ oder Pflegedienste unterhalten, dabei sind, begibt man sich auf die dunkle Seite der Macht. Die Pharmaindustrie ist dann Lord Vader des Gesundheitswesens. Die Patient:innen haben bei den Lieferengpässen gemerkt, wohin solche Betrachtungen führen. Richtig ist, dass wir klare Aufsichtsstrukturen benötigen, damit sich alle an die Regeln halten. Die vorgeschlagene Gesundheitsagentur hätte hier eine wichtige Rolle.
Wenn die flächendeckende medizinische Versorgung trotz Fachkräftemangel erhalten bleiben soll, muss es zu innovativen Lösungen kommen, die auch Risikokapital und Investoren benötigen. Und wenn wir einen Pharmastandort Deutschland haben wollen, der die gesamte Wertschöpfungskette abdeckt, dann bedarf es einer offensiven Industriepolitik, auch für Pharmaunternehmen. Es ist nicht schwer vorauszusagen, dass zukunftsgerichtete Lösungen im Gesundheitswesen Exportschlager „Made in Germany“ werden können. Was geleistet werden kann, wenn nur alle wollen, hat die Impfstoffentwicklung gezeigt.
Ein Dialog über solche Ansätze zeigt den Menschen, was der Gesellschaft Gesundheit wert ist. Er fehlt bislang völlig. Wir brauchen Mut für diesen Dialog und am Ende auch Geld. Aber ist uns Gesundheit weniger wichtig als andere Schwerpunktthemen? Das sind Wertentscheidungen, für die der politische Diskurs erfunden wurde.
Lutz Stroppe ist Senior Advisor bei FGS Global. Zuvor war er bis April 2019 beamteter Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium. Davor in selbiger Funktion im Bundesfamilienministerium tätig.