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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Von Boris Pistorius lernen

Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen
Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen Foto: privat

Deutschland braucht endlich eine echte Bereitschaft zur tiefgreifenden Modernisierung des Gesundheitswesens, meint Jochen Werner im Standpunkt. Auf die Akteure der Gesundheitspolitik will er dabei nicht zählen. Was bleibe, sei der Patient als Treiber für eine fortschrittsfähige Gesundheitsversorgung.

von Jochen A. Werner

veröffentlicht am 14.11.2023

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Seit nun mehr als vier Jahrzehnten bin ich im Gesundheitswesen unterwegs, als Arzt, Klinikdirektor und Vorstandsvorsitzender an vielen Universitätskliniken tätig gewesen und aktuell tätig. In dieser Zeit, und dies spüre ich immer deutlicher, habe ich – neben vielen anderen Dingen – auch gelernt: Die Situation des Gesundheitssystems ist nicht losgelöst vom Umfeld, sondern vielmehr ein Spiegel der Gesellschaft.

Die Welt um uns herum dreht sich gerade mit einer teils erschreckenden Dynamik. Und immer klarer wird in vielen Politikfeldern die schmerzhafte Erkenntnis, dass niemand mehr auf uns und unsere deutschen Befindlichkeiten wartet. Die Nationen und Bündnisse mitsamt ihren Einflusssphären sortieren sich neu. Es ist höchste Zeit, sich endlich wieder auf Grundtugenden zu besinnen – die Wichtigste vielleicht: Wir müssen lernen, dass Mutlosigkeit, Agonie und Bequemlichkeit keine Lösungen sind.

Es braucht einen Mentalitätswechsel im Gesundheitswesen

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat Ende Oktober in einem aus meiner Sicht bereits heute historischen Interview im ZDF gesagt: Deutschland muss wieder kriegstüchtig werden, und die Gesellschaft müsse sich dafür aufstellen. Was für unfassbare, lange Zeit undenkbare Worte in einem konsensgeprägten, friedliebenden Land. Einem Land, das sich viel zu lange in einem brüchigen Wohlstand eingerichtet hatte, der zu weiten Teilen auf billiger Energie aus Russland und Absatzmärkten in China basierte. Wir müssten uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass unsere Freiheit und unser Wohlstand keine Automatismen sind, sondern bedroht werden und verteidigt werden müssen. Pistorius hat damit einen Mentalitätswechsel der Gesellschaft eingefordert – nicht mehr, also zum Beispiel kein weiteres Geld, aber eben auch nicht weniger.

Genau diesen Mentalitätswechsel braucht es eben auch in der Gesundheitsversorgung. Die Gesundheitspolitik hat keinen Boris Pistorius, aber einen Karl Lauterbach (SPD). Der Bundesgesundheitsminister hat ebenso wie der Verteidigungsminister erkannt, dass sich das Gesundheitssystem in vielen zentralen Bereichen reformieren und auch digitalisieren muss, um zukunftsfähig zu sein. Man mag darüber streiten, dass all diesen Projekten der übergeordnete Masterplan und die Strategie fehlt und daher vieles unausgegoren scheint und auch tatsächlich ist. Vor allem aber hat Karl Lauterbach 16 Landesgesundheitsminister, die – mehr (Karl-Josef Laumann (CDU) in NRW) oder weniger konstruktiv die Gesundheitspolitik und Krankenhausplanung in ihrem Bundesland gestalten und vorzugsweise an regionalen und lokalen Interessen ausrichten.

Akteure neutralisieren sich gegenseitig

Und damit nicht genug, kommt zur politischen Zersplitterung noch eine Vielzahl von Lobby- und Interessengruppen mit divergierenden Zielen hinzu, die – das natürliche Charakteristikum jeder Interessenvertretung – vor allem die eigene Klientel im Auge haben, auch wenn das angebliche Wohl der Patienten zur Legitimierung der Partikularinteressen natürlich prinzipiell bemüht wird.

Die Bundeswehr und die Gesellschaft müssen wieder kriegstüchtig werden. Das Gesundheitssystem hingegen muss erst einmal fortschrittsfähig werden. Alle Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass dies in den etablierten Strukturen der gesundheitspolitischen Akteure nicht möglich ist. Natürlich gibt es auch in der Gesundheitspolitik Handlungs- und Veränderungsdruck durch den demografischen Wandel, den Fachkräftemangel und die drohende Unterfinanzierung. Alle diese Impulse sind aber nicht ausreichend stark, um analog zur realen Bedrohung in der Sicherheitspolitik tatsächlich einschneidende, auch historische Entscheidungen und Veränderungen zu generieren. Lieber greift man auf Scheinlösungen wie etwa den „Tarifvertrag Entlastung“ oder die klammheimliche Bezuschussung des Gesundheitssystems durch Steuermittel zurück. Die Akteure der Gesundheitspolitik, so viel steht für mich fest, werden sich weiterhin auf absehbare Zeit neutralisieren.

Patient: Vom Bittsteller zum selbstbewussten Kunden

Was also ist die Lösung, um in unserem Gesundheitswesen wieder fortschrittsfähig zu werden? Die einzige Ressource, die dies ändern kann, ist der Patient. Ja, genau dieser Patient, der es gewohnt ist, sich morgens im Dunkeln um sieben Uhr bei Nieselregen an Treppenhäusern zu Hausarztpraxen anzustellen, um nicht den ganzen Tag im Wartezimmer zu sitzen. Der jahrzehntelang gebeten wurde, Röntgenbilder in einem unförmigen Umschlag zu transportieren und dem Facharzt zu übergeben. Und der hoffen muss, dass trotz steigender Kassenbeiträge im Winter genug Hustensaft oder Antibiotika für seine Kinder verfügbar ist – von behandelnden Ärztinnen und Ärzten einmal ganz abgesehen.

Dieser Patient kann nicht nur, er muss eine neue Rolle einnehmen. Nicht als Duckmäuser und Bittsteller, sondern als selbstbewusster Kunde von medizinischen Leistungen, die zwingend digital hinterlegt und unterstützt sein müssen. Zum einen, um in vollem Umfang von den Chancen und Perspektiven einer modernen Medizin zu profitieren. Zum anderen, um selbst beim Friseur schon selbstverständliche Services wie eine digitale Terminvergabe in Anspruch zu nehmen. Über solche und viele andere Möglichkeiten muss der Patient informiert werden. Er muss lernen, sich smart zu verhalten.

Solch ein smarter Patient versteht Gesundheit allerdings nicht als Einbahnstraße. Er ist selbst bereit, daran aktiv mitzuwirken, durch eine gesunde Lebensführung, Prävention, die Nutzung von Wearables und alle Möglichkeiten der Früherkennung. Für all dies brauchen wir eine breite Datenbasis, die am Wohl der Patienten ausgerichtet ist und ausschließlich dafür genutzt wird.

Und schließlich: Dieser Patient ist nicht allein. Er ist in Gesellschaft von weiteren 84 Millionen Patienten in Deutschland. Denn jeder Mensch, egal wie alt, egal welchen Geschlechts, ob gesund oder krank, ist seit seiner Zeugung ein Patient. Der Terminus „Patient“ muss endlich vom Terminus „krank“ entkoppelt werden. „Smart“ ist stattdessen der Begriff, der diese Wirklichkeit eines modernen Patienten korrekt beschreibt.

Gesellschaftliche Kraftanstrengung

Es wird überdeutlich: Für diese tiefgreifenden Bewusstseins- und Verhaltensveränderungen sind ein hoher Informationsstand, Aufgeklärtheit und digitale Affinität erforderlich. Gesundheit muss daher zwingend früh und fest – ebenso wie demnächst vielleicht wieder die Wehrhaftigkeit einer Gesellschaft – im staatlichen Bildungssystem verankert sein. Dann passt der smarte Patient auch in ein Gesundheitssystem und in eine Gesellschaft, die nach der Bleischwere der vergangenen Jahre mehr (Eigen)-Aktivität, mehr Entschlusskraft und mehr Mut erfordert.

Fassen wir zusammen: Es scheint ein weiter Weg von der Kriegstüchtigkeit unserer Gesellschaft hin zu einer modernen Medizin. Bei Lichte betrachtet gibt es hingegen eine frappierende Anzahl von Übereinstimmungen. Es geht um die Bereitschaft zur tiefgreifenden Modernisierung, auch um die Bereitschaft zur Anstrengung. Es geht um die schmerzhafte Erkenntnis, dass wir – in der Verteidigungs- wie in der Gesundheitspolitik – viel zu viele elementare Aufgaben eben nicht angepackt, sondern verschleppt haben. Und um den Auftrag, dies als gesellschaftliche Kraftanstrengung jetzt endlich zu ändern.

Professor Dr. Jochen A. Werner ist Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen.

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