„In einer Krise darf der Weg zu Informationen für Mediziner nicht hinter einer Paywall liegen”, sagt Nawid Salimi, Mitgründer und Redaktionsleiter bei Amboss. Die digitale Wissensplattform stellt derzeit Medizinern kostenlos Informationen zum Thema Covid-19 sowie einige intensivmedizinische Orientierungshilfen, etwa zur Beatmung, zur Verfügung. Das Kapitel über Covid-19 wurde dabei in verschiedene Sprachen übersetzt, um auch außerhalb von Deutschland Ärzte zu unterstützen – und hat inzwischen mehr als 400.000 Aufrufe.
Nawid Salimi gründete 2012 mit seinem Bruder Madjid und zwei Studienfreunden seines Bruders Amboss als intelligentes Lernprogramm zur Vorbereitung auf das zweite medizinische Staatsexamen. Madjid Salimi, der ältere von beiden, hatte zuvor bereits ein Softwareunternehmen ins Leben gerufen und überzeugte seine Freunde Sievert Weiss und Kenan Hasan sowie Nawid von seiner Idee: Eine Wissensplattform, die das Erlernen von medizinischen Inhalten erleichtern soll. „Die digitalen Systeme, die es damals in der medizinischen Lehre gab, waren ineffizient und einfach nicht intelligent. Wir haben gedacht: Das kann man viel besser machen”, sagt Nawid Salimi.
Vom Hammerexamen zum Amboss-Lernprogramm
Als seinem Bruder die Idee für das Lernprogramm kam, arbeitete Salimi schon als internistischer Assistenzarzt in einem Krankenhaus in Köln. Die anderen drei paukten noch für ihr zweites Staatsexamen. Der Name der Lernplattform dürfte auch von der damaligen Lernerei inspiriert worden sein. Er leitet sich vom gleichnamigen Knochen der Gehörknöchelchenkette, ab, der unter anderem zusammen mit dem sogenannten „Hammer” für die Schallübertragung vom Trommelfell zum Innenohr sorgt.
„Damals wurde von den Studenten der Begriff 'Hammerexamen' für das zweite medizinische Staatsexamen geprägt. Der Amboss passte also einerseits als Antwort auf dieses Hammerexamen, andererseits sollte das Programm ja eine Art Kaderschmiede für die medizinische Ausbildung sein”, so Salimi.
Eigentlich wollte Salimi Dirigent werden
Nawid Salimi wuchs in einem Mediziner-Haushalt in Köln auf. Sein Vater war mit 18 Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen, um Medizin zu studieren, die Mutter arbeitete als Krankenpflegerin. Trotzdem war das Medizinstudium anfangs eher Plan B für den heute 38-Jährigen. Er spielte Harfe im Orchester und träumte davon, Dirigent zu werden. „Das Musizieren im Orchester war eine magische Erfahrung. Musik hatte für mich fast einen religiösen Stellenwert.“ Trotzdem entschied er sich für ein Medizinstudium und belegte zusätzlich bis zum Physikum Philosophie- und Musikseminare. Erst danach konzentrierte er sich „aus Vernunft oder Feigheit“ voll auf die Medizin.
„Die Arbeit im Krankenhaus hat mir eigentlich großen Spaß gemacht, aber wir sahen unsere Idee als einmalige Chance, uns etwas Eigenes aufzubauen.” Als sein Bruder ihn 2011 von der Gründung überzeugte, übernahm Salimi die Geschäftsführung, behielt aber zunächst eine halbe Stelle als Internist, bis er Anfang des Gründungsjahres 2012 Vollzeit bei Amboss einstieg. Wegen seiner klinischen Erfahrung überprüfte er anfangs vor allem Inhalte, die andere Redakteure erstellt hatten; daneben kümmerte er sich um didaktische Fragen und feilte mit am Design des Programms. Aufgrund des damals wie heute bestehenden Ärztemangels habe er den Wechsel vom Krankenhaus ins Büro allerdings nie als endgültige Entscheidung betrachtet.
Corona im Fokus
Die ersten Jahre als Gründer verliefen rasant. Die jungen Mediziner bezogen in Köln ihr erstes Büro in einem renovierungsbedürftigen Stockwerk einer Immobilie, die den Eltern eines Freundes gehörte. Nach dem Gründungsjahr arbeiteten bereits rund 20 Personen jeden Tag im Büro, kommentierten mehrere tausend Examensfragen und erstellten die Kapitel der Online-Bibliothek. Heute hat das Unternehmen mehr als 300 Mitarbeiter und noch zwei weitere Büros in Berlin und New York. Auch die Zielgruppe hat sich erweitert: Durch einen „Arzt-Modus“ will Amboss nicht nur Studierende, sondern auch bereits praktizierende Ärzte in der Klinik bei der Patientenversorgung unterstützen – auch in Krisenzeiten.
„Für das Selbstverständnis unserer Mitarbeiter ist es sehr wichtig, sich immer dafür zu entscheiden, Gesundheit zu fördern und da, wo es wichtig ist, Barrieren abzubauen”, sagt Salimi, der heute als „Chief Medical Officer” die Amboss-Redaktion leitet. Daher stellt das Unternehmen beispielsweise syrischen Medizinstudierenden das Programm gratis zur Verfügung.
Zurzeit konzentriert sich die Redaktion vor allem auf Themen, die Covid-19 betreffen. Das sei Dank der flexiblen Redaktionsarbeit gut möglich. „Wir wollen in diesem Wust von Informationen eine Quelle sein, auf die sich Ärztinnen und Ärzte verlassen können. Die haben keine Zeit, alles zu lesen – wir schon”, sagt Salimi. Sophie Halcour