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Gesundheit & E-Health

Fehlzeiten Wenn die Psyche nicht mehr mitmacht

Schon wieder Rekorde bei den Arbeitnehmer-Fehlzeiten. 2022 erreichte die Zahl der AU-Fälle einen historischen Höchststand. Und niemals vorher gab es so viele Ausfalltage wegen psychischer Erkrankungen. Letzteres ist aber stark arbeitsplatzbezogen, zeigt eine AOK-Studie. In Betrieben, die als zukunftsfähig empfunden werden, sind die Beschäftigten gesünder.

Rainer Woratschka

von Rainer Woratschka

veröffentlicht am 18.10.2023

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Anhaltend hohe arbeitsbezogene Beschwerden der Beschäftigten und stetig steigende Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen: Der aktuelle Fehlzeiten-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), der heute in Berlin vorgestellt wird, zeigt bedenkliche Entwicklungen in der Arbeitswelt. So erreichte nicht nur die Zahl aller arbeitsunfähig Gemeldeten (AU-Fälle) im vergangenen Jahr wegen pandemiebedingter Atemerkrankungen einen historischen Höchststand. Einen Rekord vermeldet die dem Tagesspiegel Background vorliegende Analyse auch bei den Krankmeldungen aufgrund von Störungen der Psyche. Die daraus resultierenden Ausfallzeiten am Arbeitsplatz waren niemals vorher so lang.

Interessant in der Analyse sind auch Selbsteinschätzungen zu den Gründen für psychische Beschwerden – denn sie verweisen auf eine zunehmende Drucksituation für viele Beschäftigte. Befragt, was davon aus ihrer Sicht auf ihre Arbeitsbedingungen zurückzuführen ist, nannten die AOK-Versicherten am häufigsten Erschöpfung, Wut und Verärgerung sowie ein Gefühl des Ausgebranntseins. Jede:r Zweite führte aber auch Niedergeschlagenheit, Konzentrationsprobleme oder Schlafstörungen auf den Job zurück, jede:r Vierte berichtete gar von Angstgefühlen vor und bei der Arbeit.

Im Schnitt 29 Krankheitstage pro Fall

Die Zuschreibungen sind hochaktuell, sie stammen aus diesem Jahr. Und ein Vergleich mit Befragungsdaten aus den Jahren 2020 bis 2022 zeigt, dass fast all diese, direkt arbeitsbezogenen psychischen Beschwerden seit Ausbruch der Corona-Pandemie zugenommen haben. Im Vergleich zu den Hochphasen von Covid-19 in den Jahren 2021 und 2022 sind die Werte zwar wieder leicht gesunken, sie liegen jedoch immer noch merklich über dem Niveau vor Beginn der Pandemie.

Warum psychische Erkrankungen so ins Kontor schlagen, erläutert Johanna Baumgardt, Forschungsbereichsleiterin für Betriebliche Gesundheitsförderung im WIdO und Mitherausgeberin des Fehlzeiten-Reports. Im Vergleich zu anderen Krankheiten gingen sie „häufig mit besonders langen Fehlzeiten einher“. Während psychische Erkrankungen 2022 im Schnitt zu AU-Zeiten von 29,6 Tagen je Fall geführt hätten, seien es beispielsweise bei Atemwegserkrankungen nur 7,1 Tage pro Fall. Der Durchschnitt über alle Erkrankungsgruppen lag im vergangenen Jahr bei 11,3 Tagen je Fall.

„Zeitenwende“ durch Homeoffice

Dabei war und ist das Problem der steigenden Fehlzeiten aufgrund von psychischen Erkrankungen nicht nur coronabedingt. Ein Blick auf die vergangenen zehn Jahre zeigt, dass die mit solchen Diagnosen begründeten Ausfalltage auch vorher schon kontinuierlich zugenommen haben. Der Auswertung zufolge sind sie von 2012 bis 2022 um 48 Prozent gestiegen, während bei allen anderen Erkrankungsgruppen bis 2021 lediglich ein Anstieg von 8,8 Prozent beobachtet wurde. Nur im vergangenen Jahr lag er dann plötzlich bei 35 Prozent.

Die Zahl der AU-Fälle erreichte einen Spitzenwert von über 216, bezogen auf 100 erwerbstätige AOK-Mitglieder. Im Jahr 2021 waren es grade mal 149 – ein Anstieg um mehr als 30 Prozent. Als Hauptursache dafür werden in der Analyse pandemiebedingte Höchststände bei Atemwegserkrankungen genannt. Sie schlugen 2022 mit 86,5 AU-Fällen je 100 Mitglieder zu Buche. Im Jahr davor waren es 36,3 Fälle, ihre Zahl hat sich somit mehr als verdoppelt.

Allerdings scheint die Coronakrise auch das Problem der Ausfallzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen verschärft zu haben. Die Pandemie habe – in Verbindung mit der Alterung der Gesellschaft, dem Fachkräftemangel und der Digitalisierung – für die Arbeitswelt eine „Zeitenwende“ verursacht, meint Bernhard Badura, Gesundheitssoziologe aus Bielefeld und Mitherausgeber des Fehlzeiten-Reports. Und am deutlichsten wirke sich diese in der nahezu flächendeckenden Einführung von Homeoffice und mobiler Arbeit aus.

Isolation und entgrenzte Arbeit

Unternehmen, Krankenkassen und Politik sollten sich dringend mit der Frage auseinandersetzen, wie sie angesichts dieser neuen Rahmenbedingungen die mentale Gesundheit der Beschäftigten stärken können, drängt der Professor. Ein Zurück in die Arbeitswelt vor der Pandemie nämlich gebe es nicht. „Homeoffice ist gekommen, um zu bleiben.“ Zwar arbeiteten inzwischen wieder mehr Beschäftigte im Büro. Der Anteil der Unternehmen, die mobiles Arbeiten beziehungsweise Homeoffice anbieten, ist laut der aktuellen WIdO-Befragung jedoch von 72 Prozent im Jahr 2021 auf 78 Prozent im Jahr 2023 gestiegen.

Die neuen Arbeitsformen könnten zwar positive Effekte wie mehr Flexibilität und höhere Arbeitszufriedenheit haben, räumte Badura ein. Man bemerke aber auch negative Auswirkungen wie eine Entgrenzung der Arbeit, Belastung durch ständige Erreichbarkeit sowie schlechtere Arbeitsbedingungen und zu wenig Bewegung. „Nicht zu unterschätzen“ seien zudem soziale Isolation und „mögliche Distanzierung vom Unternehmen“. Führungskräfte seien deshalb besonders gefordert, die mentale Gesundheit der Beschäftigen zu fördern und mögliche Probleme frühzeitig zu erkennen.

Gesünder in als zukunftsfähig empfundenen Firmen

Traditionelle Rollenmuster etwa sollten aus der Sicht des Wissenschaftlers durch moderne Konzepte wie „bindungsorientierte Führung“ ersetzt werden. Dazu passend ist die Beobachtung der Studienautoren, dass Betriebe und Organisationen, die von ihren Mitarbeitenden als zukunftsfähig eingeschätzt werden, im Schnitt auf weniger berufliche Fehlzeiten kommen und gesündere Beschäftigte haben.

Am stärksten betroffen von den Ausfallzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen waren im vergangenen Jahr vor allem Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen, bei denen 14 Prozent aller beruflichen Fehltage auf psychische Erkrankungen entfielen. An zweiter Stelle standen die Branchen „Öffentliche Verwaltung/Sozialversicherung“ sowie Banken und Versicherungen mit jeweils 13 Prozent. Der bundesweite Durchschnitt über alle Berufsgruppen lag bei zehn Prozent.

Jeder Zweite spürt starke Veränderungen

Insgesamt gaben bei der repräsentativen Befragung im Februar 2023 rund 47 Prozent der Beschäftigten an, in ihrem Betrieb oder ihrer Organisation „eher starke“ bis „sehr starke Veränderungen“ wahrzunehmen. Als hauptsächlicher Treiber für die Veränderungen wurde die Covid-19-Pandemie genannt, gefolgt von technologischen Entwicklungen und den Möglichkeiten, die diese mit sich bringen.

Das genannte Veränderungs-Empfinden im beruflichen Umfeld muss nichts Schlechtes sein. Ausgeprägte Zukunftsängste bezüglich der gesamtgesellschaftlichen Situation hätten sich zwar bei mehr als 35 Prozent der befragten Beschäftigten gezeigt, berichtet Johanna Baumgardt. Mit Blick auf den eigenen Arbeitgeber allerdings litten nur acht Prozent der Arbeitnehmer darunter. Fast die Hälfte der Befragten dagegen, nämlich 45 Prozent, habe der zugehörigen Firma eine ausgeprägte Zukunftsfähigkeit bescheinigt.

Mit Blick auf den nachweisbaren Zusammenhang mit der Gesundheit der Beschäftigten bezeichnet die Forscherin dieses Ergebnis als „sehr erfreulich“. Tatsächlich hatten Arbeitnehmer, die ihrem Unternehmen gute Zukunftsfähigkeit attestierten, in den zwölf Monaten vor der Befragung im Schnitt lediglich 11,6 Tage krankheitsbedingt am Arbeitsplatz gefehlt. Bei denen, die sich negativ zur Zukunftsfähigkeit des eigenen Betriebs äußerten, waren es dagegen durchschnittlich 16,2 Tage.

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