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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Endstation Realität: Finanzlücken im Klimaschutzplan

VDV-Vizepräsidenten Tim Dahlmann-Resing und Werner Overkamp
VDV-Vizepräsidenten Tim Dahlmann-Resing und Werner Overkamp Foto: VDV

Politische, gesellschaftliche und vor allem finanzielle Hürden machen dem Öffentlichen Personennahverkehr zu schaffen. Mit den europäischen Klimaschutzzielen ist das nicht vereinbar. Fünf Thesen zur Lage der Branche.

von Tim Dahlmann-Resing, Werner Overkamp

veröffentlicht am 05.04.2024

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In einer Zeit, in der der Klimaschutz ganz oben auf der globalen Agenda steht, steht Deutschland vor einer beispiellosen Herausforderung: der Transformation des Verkehrssektors. Der europäische Green Deal 2019 hat die Klimaschutzziele nicht nur bestätigt, sondern auch verschärft und damit die Notwendigkeit unterstrichen, den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu stärken und nachhaltig zu gestalten.

Die Realität zeigt jedoch, dass politische, gesellschaftliche und vor allem finanzielle Hürden die ehrgeizigen Ziele gefährden. Im Folgenden werden fünf zentrale Thesen vorgestellt, die die aktuelle Situation des deutschen ÖPNV beleuchten. Dabei wird das überlagernde Thema „Finanzierung und Weiterentwicklung des Deutschland-Tickets“ bewusst ausgeklammert.

These 1: Klimaschutz genießt keine oberste Priorität 

Veränderter Blick auf Klimaschutzziele: Die Europäische Union hat mit dem „Green Deal“ im Jahr 2019 die Klimaschutzziele – insbesondere auch die Zwischenziele 2030 – nochmals deutlich verschärft. Vor dem Hintergrund der bisher enttäuschenden Entwicklung im deutschen Verkehrssektor gab es in den letzten Jahren einen breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens, dass zusätzliche Anstrengungen und finanzielle Mittel für den Klimaschutz im Verkehrssektor und eine Stärkung des ÖPNV erforderlich sind.

Mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 haben sich die politischen Prioritäten in Deutschland dramatisch verschoben. Klimaschutz wird weiter als wichtig erachtet, doch andere Politikfelder haben Priorität. Das Erreichen der Klimaschutz- und der Zwischenziele wird zwischenzeitlich „realistischer“ gesehen. Es ist wahrscheinlich, dass sie nicht mehr bis 2030, sondern erst in den Jahren danach erreicht werden können – mit allen Konsequenzen, die damit verbunden sind.

These 2: Schuldenbremse stoppt Ausbau- und Modernisierung

Substanzielle Mittelzuwächse ab 2026? In Deutschland stehen das Einhalten der Schuldenbremse und das Konsolidieren der öffentlichen Haushalte im Vordergrund. Die die Bundesregierung mittragende FDP erteilt einem Lockern der Schuldenbremse, die Bund und Ländern seit 2011 verbindliche Vorgaben zur Verminderung des Haushaltsdefizits macht, eine Absage. Auch der von der Bundesregierung initiierte und im Koalitionsvertrag hinterlegte Pakt für den Ausbau und die Modernisierung des ÖPNV scheitert bislang an der Frage der Finanzen: Der Bund erwartet von den Ländern eine stärkere finanzielle Beteiligung an der ÖPNV-Finanzierung, für die die Länder im föderalen System verfassungsrechtlich zuständig sind, und die Länder fordern mehr Geld vom Bund, da auch sie an die Vorgaben der Schuldenbremse gebunden sind. Realistischerweise sind substanzielle Mittelaufwüchse für den ÖPNV erst in der nächsten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ab dem Haushaltsjahr 2026 zu erwarten. Darauf bereiten sich Länder und Branchenverband VDV vor, um die Finanzierungsbedarfe für die Wahlprogramme der Parteien zu adressieren.

These 3: ÖPNV vor Ausbau-Stopp und Angebotsabbau

Sicherung der Bestandsverkehre im Fokus: Da sich Bund und Länder mit Verweis auf die Schuldenbremse gegenwärtig mit zusätzlichen Finanzierungszusagen für den ÖPNV zurückhalten, übernimmt die kommunale Ebene derzeit einen immer größeren Anteil an der Finanzierung des ÖPNV. Ein Beispiel: Den höchsten kommunalen Anteil an der ÖPNV-Finanzierung unter den deutschen Flächenländern tragen die Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen: 1,28 Milliarden Euro im Jahr 2021 – das entspricht 41,6 Prozent.

Der kommunale Querverbund beziehungsweise die Finanzkraft der Städte und Gemeinden sind inzwischen in den ersten Kommunen an die Belastungsgrenze gestoßen und führen zu einer Verlangsamung des ÖPNV-Ausbaus und zur Streichung von Ausbauprojekten oder Angeboten. Prominente Beispiele sind Mainz oder Bremen. Aufgrund steigender Kosten – insbesondere für Personal, Energie und Material – werden spätestens ab 2026 auch die Regionalisierungsmittel zur Finanzierung der SPNV-Betriebsleistungen nicht mehr ausreichen und erste Länder erwägen eine Verminderung des ÖPNV-Angebots.

These 4: GVFG erfolgreich und überzeichnet

Hochlauf bei Ausbau und Grunderneuerung der Straßen- und Stadtbahninfrastruktur: Trotz eines großen Projektvorrats wurden die zur Verfügung stehenden Bundesfinanzhilfen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) in den vergangenen Jahren nie vollständig abgerufen. Die einzigen beiden deutschen Städte mit einem neuen Straßenbahnsystem waren 2014 Weil am Rhein und 2017 Kehl, wo die benachbarten Straßenbahnnetze von Basel und Straßburg über die Grenze nach Deutschland erweitert wurden.

Nach der umfassenden inhaltlichen GVFG-Novellierung mit einer Erhöhung der Bundesmittel von 333 Millionen Euro auf eine Milliarde ist der gordische Knoten bei der Planung von Projekten bis zur Baureife nun geplatzt: Die Zahl der Projekte im GVFG-Programm hat sich innerhalb von drei Jahren auf über 400 verdreifacht. Die Mittel wurden 2023 vollständig abgerufen. Fast 80 Projekte zur Grunderneuerung von Straßen- und Stadtbahninfrastruktur wurden angemeldet und werden nun umgesetzt. Das novellierte GVFG ist so erfolgreich, dass jetzt eine weitere Aufstockung der Bundesmittel erforderlich wird, um alle Projekte des ÖPNV-Ausbaus und der Grunderneuerung bedienen zu können. Andernfalls muss eine Priorisierung vorgenommen werden und nachrangige Grunderneuerungsprojekte könnten leer ausgehen.

These 5: Elektrifizierung der E-Bus-Flotten beendet

Antriebswende bei Bussen ausgebremst: Nach den neuen Vorgaben für schwere Nutzfahrzeuge einschließlich Bussen müssen ab 2030 bereits 90 Prozent und ab 2035 letztlich 100 Prozent der neu in den Markt gebrachten Stadtbusse emissionsfrei sein. Darüber hinaus gelten für die Beschaffung von Linienbussen im ÖPNV weiterhin die Vorgaben der Clean Vehicles Directive. Auf dem Weg zur CO2-freien Mobilität ist die Branche auch dank der Förderprogramme des Bundes gut vorangekommen. Rund 800 Verkehrsunternehmen sehen in ihren Wirtschaftsplänen bis 2025 die Umstellung von rund 10.000 Bussen auf emissionsfreien Betrieb vor; das entspricht rund 20 Prozent aller Linienbusse.

Das Ende 2023 abrupt auslaufende, bislang sehr erfolgreiche Förderprogramm des Bundes stellt die Planungen der Unternehmen infrage. In den Bundesländern ohne Landesförderung als Rückfallebene müssten Kommunen und Unternehmen die Mehrkosten der Antriebswende vollständig selbst tragen, obwohl sich der Bund für das Erreichen der Klimaschutzziele international verpflichtet.

Seit der Novellierung der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO), die 2023 auf europäischer Ebene in Kraft tritt, gelten sogar deutliche Vereinfachungen für Umweltschutzbeihilfen: Bis zu 100 Prozent der Mehrkosten für emissionsfreie Fahrzeuge und bis zu 80 Prozent der Mehrkosten für saubere Fahrzeuge sind nun unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Dieser neue europarechtliche Spielraum muss nun in den Mitgliedsstaaten genutzt werden.

Der deutsche ÖPNV steht vor nie dagewesenen Herausforderungen in Bezug auf die Transformation der Technik, der Ausbauanforderungen für die Mobilitätswende und mit Blick auf eine Finanzierung, die unternehmerische Planungssicherheit gibt. Bund und Länder sind gefordert.

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