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Smart City

Werkstattbericht Verschlaft die KI-Transformation nicht!

Philipp Stolz, Leiter Stabsstelle Digitalisierung, Stadt Schorndorf
Philipp Stolz, Leiter Stabsstelle Digitalisierung, Stadt Schorndorf Foto: Quelle: Privat

Der Staat darf die nächste technologische Revolution nicht schon wieder verschlafen. Kommunen müssten die Vorteile der Künstlichen Intelligenz stattdessen bereits heute erkennen und überlegen, wie sie sie nutzen, schreibt Philipp Stolz. Das gebiete schon der Eigennutz der Kommunen, denn schon bald seien die Herausforderungen qualitativ und quantitativ ohne KI nicht mehr zu meistern.

von Philipp Stolz

veröffentlicht am 19.06.2024

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Es ist kurz vor November 2019 in einem Hörsaal der Technischen Universität Tallinn. Professorin Carlotta Perez stellt uns Studierenden ihre Theorie der techno-ökonomischen Paradigmenwechsel dar: Große technologische Revolutionen finden demnach seit Beginn des Kapitalismus in regelmäßigen Abständen statt und nehmen in Bezug auf Ihre Verbreitung und ihre gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen einen ähnlichen Verlauf.

Egal, ob es sich um die Dampfmaschine, Elektrizität oder das Internet handelt: In dem Moment, in dem wir beginnen, die Welt durch die Brille der neuen Technologie zu betrachten und ihre Mehrwerte für alle zu erschließen, beginnt der turning point, der Wendepunkt. Die alte Weltordnung funktioniert angesichts der neuen technologischen Möglichkeiten dann nicht mehr richtig und die Weltordnung der neuen Technologie muss sich noch etablieren. Eine weltweite Krise trete dann auf, so Perez. Doch sie sorge dafür, dass Chancen und Nutzen der neuen Technologie allseits anerkannt werden. Zeitgleich macht sich bereits die nächste technologische Revolution auf den Weg, die die Welt in 20 bis 40 Jahren erneut auf den Kopf stellen wird.

Digitalisierung ist (endlich) angekommen

Aktuell, so Perez im Dezember 2019, befänden wir uns nahe am turning point des technologischen Paradigmas des Internets beziehungsweise der Informationstechnologie. Gemäß ihrer Theorie stand eine weltweite Krise unmittelbar bevor, an deren Ende die Digitalisierung unserer Gesellschaft maßgeblich vorangetrieben haben würde. Sechs Monate später durfte ich mich daran machen, die allererste Videokonferenzsoftware für meinen neuen öffentlichen Arbeitgeber zu implementieren. Die Corona-Pandemie zwang den öffentlichen Dienst nun, eine in breiten Teilen jahrzehntelange Antipathie – zumindest aber Apathie – gegenüber Home-Office, E-Akten und Onlinedienstleistungen abzulegen.

Digitalisierungsmaßnahmen werden heutzutage meist nur noch inhaltlich diskutiert („Wie gehen wir das Projekt an?“) und nicht dogmatisch („Warum gehen wir das Projekt an?“). Das sah noch vor wenigen Jahren deutlich anders aus, aber die Krise hat die Mehrwerte offengelegt. Folgen wir der Theorie von Carlotta Perez, befinden wir uns nun nämlich am Beginn der deployment phase, der Phase von Entfaltung und Einsatz. Wir verwenden die neuen technologischen Möglichkeiten im Rahmen des Informationszeitalters nun in nahezu sämtlichen Lebensbereichen wie selbstverständlich. Die Wirtschaft stabilisiert sich, neue Arbeitsplätze werden geschaffen. Die Digitalisierung ist angekommen.

KI – die Revolution nicht verpassen

Allein: Während einer solchen deployment phase macht sich stets auch eine neue technologische Revolution bereit, die unsere Lebenswelt grundlegend verändern wird. Ich erinnere mich, dass 2019 viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen überzeugt waren, dass es sich hierbei um die Blockchain-Technologie handeln würde. Heute bin ich davon überzeugt, dass die Künstliche Intelligenz dieses neue technologische Paradigma sein wird und wir uns unsere künftige Lebenswelt aufgrund dieser technologischen Revolution noch gar nicht ausmalen können. Das bedeutet für mich aber auch, dass sich eines jetzt nicht wiederholen darf: Der anstehende Paradigmenwechsel darf vom deutschen Staatswesen nicht verschlafen werden! Wir müssen uns schon heute darauf einstellen, dass die Veränderungen an unserer Lebenswelt durch Künstliche Intelligenz – bei allen damit einhergehenden Risiken und Herausforderungen – nicht mehr aufzuhalten sind, sondern wir als Staat eine aktive Rolle einnehmen müssen, diesen technologischen Wandel mitzugehen und im Sinne des Allgemeinwohls zu steuern.

Nicht jede Verwaltung muss das technische Knowhow aufbieten, um eine KI zu entwickeln, aber jede Organisation muss sich der Funktionsweise, der Chancen und auch der Risiken dieser Technologie bewusst sein. Denn sie wird in jeder Organisation früher oder später Einzug halten. Wir müssen unsere Mitarbeiter:innen folglich im Umgang und in der Reflexion dieser Technologie schulen. In Schulungen unserer Verwaltung diskutieren wir daher unter anderem, warum es einen Unterschied macht, ob eine KI den Auftrag hat, den Nutzer zufrieden zu stellen oder ihm die Wahrheit zu sagen. Wieso ist die Datenbasis einer KI von entscheidender Bedeutung? Warum ist eine KI nicht mein Freund, aber vielleicht auch nicht mein Feind? Wenn wir schon jetzt die Weichen für einen verantwortungsbewussten, kompetenten, reflektierten Umgang mit KI legen, schaffen wir den Nährboden für das notwendige kulturelle Mindset, welches uns als Verwaltung im Kontext der Digitalisierung gefehlt hat.

Denn KI bietet natürlich auch Chancen und die Gelegenheit, bei der aktuellen Belastung der öffentlichen Hand einen fulminanten Befreiungsschlag zu landen. Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Eintritte geburtenstarker Jahrgänge ins Rentenalter und der Tatsache, dass unsere öffentlichen Aufgaben quantitativ zunehmen aber eben auch qualitativ immer komplexer werden, sei auch die Frage erlaubt, ob wir als Staat in der derzeitigen Form noch lange arbeitsfähig bleiben können. Wenn KI also in der Lage ist, unsere Aufgaben wahrzunehmen, zu vereinfachen oder zumindest zu strukturieren, gebietet allein schon der Eigennutz eine Auseinandersetzung mit dieser Technologie. Von den gesamtgesellschaftlichen Vorteilen einer potenziell schnelleren, besseren und proaktiven Verwaltung einmal ganz abgesehen.

KI – Die Verwaltung als Gestalter der Technologie

Diese Diskussionen müssen wir jetzt führen – je früher, desto besser. Wie schaffen wir es, die KI-Szene, Verwaltung, Gesellschaft und Datenschutz an einen Tisch zu bringen und Lösungen für die Implementierung von KI-Technologie in die Verwaltung zu finden? Mit dem AI Act der EU haben wir bereits einen ethikbasierten Ansatz, den es nun in unsere Behörden zu tragen gilt. Dieser Ansatz öffnet nicht naiv Tür und Tor für jedwede Entwicklung, aber er erlaubt uns einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Technologie und lässt auch genügend Spielraum für Neuerungen. Bespielen wir diesen Raum! Investieren wir in KI, bilden wir unsere Mitarbeiter:innen aus, sensibilisieren wir Entscheidungsträger:innen für die Notwendigkeit von klaren rechtlichen Rahmenbedingungen und dafür, dass wir als Staat unserer Sorgfaltspflicht hinsichtlich Ethik und Transparenz nachkommen müssen. Dafür müssen wir uns aber als Gestalter dieser technologischen Revolution verstehen und uns nicht vor ihr verschließen.

Sir William Preece, Chefingenieur der britischen Post, soll 1878 gesagt haben: „Die Amerikaner haben einen Bedarf für das Telefon, aber wir nicht. Wir haben genügend Botenjungen!“ und begründete damit seine Skepsis gegenüber der technischen Neuerung mit der hervorragenden Infrastruktur seines aktuellen Systems. So mag möglicherweise manche deutsche Behördenstimme in den 1990er-Jahren ihr Verharren auf dem damals bestehenden Paradigma begründet haben. Für die neue technologische Revolution KI fehlen hier – zumindest mir – die Argumente. Packen wir es an!

Philipp Stolz ist Leiter der Stabsstelle Digitalisierung in Schorndorf (Baden-Württemberg). Bisher von ihm erschienen: Prozessmanagement braucht einen ganzheitlichen Ansatz.

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