Am 1. März zeigte sich Annalena Baerbock bei der Präsentation der Leitlinien für eine feministische Außenpolitik verwundert darüber, dass der Begriff Feminismus immer noch ein „Triggerwort“ für manche sei. Denn Feminismus steht für etwas, das im 21. Jahrhundert eigentlich selbstverständlich sein sollte: dass allen Menschen die gleichen Rechte, Freiheiten und Chancen zustehen.
Aber warum genügt es dann nicht, von einer humanistischen, menschenrechtsbasierten Politik zu sprechen? Um es mit den Worten der finnisch-nigerianischen Feministin Minna Salami zu sagen: „In einer perfekten Welt würde ‘humanistisch’ ausreichen und wir könnten den Feminismus für überflüssig erklären, aber das wäre auch eine Welt, in der etwa die Hälfte der Länder und Institutionen von Frauen geleitet würde.“ Feminismus bedeute eine gerechte Verteilung von Macht und Ressourcen für alle und sei somit tatsächlich menschenrechtsbasiert.
Deshalb lautet die Antwort: Ja, es sollte tatsächlich in vielen Bereichen ein feministischer Ansatz verfolgt werden, denn Macht muss gerechter verteilt werden. Für Baerbock beginnen sie damit, auch vor Komplexität nicht zurückzuschrecken und Maßnahmen bis zum Ende durchzudenken: „Nicht beim Verkünden der großen, tollen Ergebnisse am Ende – sondern beim Stellen der schwierigen Fragen.“ Dass dies allmählich geschieht, zeigen auch die feministische Digitalpolitik, die in der Digitalstrategie der Bundesregierung erwähnt wird, oder die feministische Stadtplanung. Aber was machen solche Ansätze anders?
Was sind die schwierigen Fragen?
Schwierige Fragen stellen sich nämlich auch in diesem Bereich viele. Wie sieht zum Beispiel gerechte Verkehrspolitik aus, die anerkennt, dass es ganz unterschiedliche Bedürfnisse gibt? Studien belegen, dass Frauen zum Beispiel andere Wege zurücklegen, andere Verkehrsmittel nutzen und andere Anforderungen an Sicherheit und Zugänglichkeit haben als Männer. Die Antworten sind vielfältig und reichen von längeren Ampelschaltungen, zuverlässig funktionierenden Aufzügen in ÖPNV-Stationen bis hin zur veränderten Priorität beim Schneeräumen. Jenseits des Themas Verkehr sind Faktoren wie die Verfügbarkeit öffentlicher Dienstleistungen, die Sauberkeit und Sicherheit von öffentlichen Parks und Spielplätzen oder die Luftqualität in der Stadt unterschiedlich ausgeprägt. Gender ist dabei bei weitem nicht die einzige Kategorie, die dazu führt, dass die Stadt für Menschen unterschiedlich gut zu nutzen ist.
You will only treasure what you can measure
Doch woher wissen wir, welchen Bedürfnissen die Stadt gerecht werden muss? Vieles wollen wir aus Daten ablesen, doch oft fehlen uns Datensätze mit der entsprechenden Komplexität, so dass sie helfen können, Ungleichheiten und Benachteiligungen von Frauen und Angehörigen marginalisierter Gruppen sichtbar zu machen. Die OECD gibt Hilfestellung dabei, wie solche nach Gender aufgeschlüsselten Daten (gender-disaggregated data) erhoben werden können. Dabei geht es nicht darum, allein das biologische Geschlecht „Frau“ zu betrachten, sondern Gender und gesellschaftliche Rollen in ihrer Bandbreite zu erfassen. Denn betroffen sind weder nur Frauen, noch sind alle Frauen gleichermaßen betroffen.
Diesen Unterschieden muss Stadtpolitik Rechnung tragen und ist dafür auf eine Datengrundlage angewiesen. Die Stadt Berlin veröffentlicht dazu jährlich einen Gender-Datenreport, der jedoch nicht alle Empfehlungen der OECD erfüllt: Frauen, Menschen mit Behinderungen und alte Menschen werden als distinkte Gruppen aufgeführt, obwohl sie sich natürlich überschneiden. Und in diesen Überschneidungsbereichen liegt das wahre Erkenntnispotenzial.
Wenn schwierige Fragen wie die einer gerechten Stadtplanung der Ausgangspunkt sind und Komplexität nicht ausgespart, sondern zugelassen wird, dann sinkt die Gefahr, dem Techniksolutionismus zu verfallen, mit dem wir im Kontext von Konzepten wie der Smart City oft konfrontiert sind: Die Hoffnung, einfache technische Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden. Komplexe systemische Herausforderungen lassen sich aber nicht mit technischen „Quick Fixes“ lösen. Im Gegenteil: die gut gemeinten technischen Lösungen verschlechtern das Problem oft sogar. Eine feministische Vorgehensweise ist also oft der ökonomischere Weg, auf dem man nicht Millionen in Technologieprojekte versenkt, die zwar beeindruckend wirken, aber wenig Wirkung zeigen.
Wer findet Antworten auf die schwierigen Fragen?
Bleibt die Frage, wer findet Antworten auf komplexe Fragen? Die Politik, die Bürger*innen, die Wissenschaft? Im Idealfall alle gemeinsam. In Berlin tagte von April bis Juni 2022 ein Bürgerrat zum Thema Energie- und Klimaschutz. Bürgerräte sind Gremien, die sich aus einem Querschnitt der Bevölkerung zusammensetzen, die Teilnehmenden werden zufällig ausgewählt. Akademiker sitzen dort neben Handwerkerinnen, Rentnerinnen neben Jugendlichen, geborene Berliner*innen neben Zugezogenen. Im Fall von Berlin waren das 100 Bürger*innen. Gemeinsam haben sie 47 Handlungsempfehlungen ausgearbeitet, von denen 42 vollständig oder teilweise in das Energie- und Klimaschutzprogramm der Stadt übernommen wurden. Bürgerräte sind nicht die Lösung für alle Probleme, aber durch ihre heterogene Zusammensetzung sind sie im Sinne des Feminismus dafür, prädestiniert komplexe Fragen aufzubohren und aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Sie können damit ein wichtiges Werkzeug auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaft sein.
Wenn die Stadt der Zukunft ein lebenswerter, gestaltbarer Ort sein möchte, dann braucht sie Maßnahmen wie Gender Mainstreaming und Gender Budgeting, also die strukturelle Verankerung von Chancengerechtigkeit in den Maßnahmen einer Stadtverwaltung sowie eine bewusste Verteilung der finanziellen Mittel in einer Form, die benachteiligten Gruppen besonders zu Gute kommt. Dafür müssen Ungleichheiten jedoch erst einmal erkannt werden. Und ohne eine feministische Herangehensweise an Datenpolitik, den Datenfeminismus, können diese Maßnahmen nicht umgesetzt werden. Wenn wir Datenfeminismus Realität werden lassen und so der Smart City der Zukunft etwas näher kommen wollen, dann wäre dies ein erster Anfang: Nicht nur am 8. März darüber zu sprechen, wie uns Feminismus weiterbringt.
Elisa Lindinger und Julia Kloiber sind Gründerinnen des Superrr Lab, einer Non-Profit-Organisation, die neue Technologien erforscht und an gerechten digitalen Zukünften arbeiten will. Aktuell arbeiten sie am Thema feministische Digitalpolitik und organisieren den weltweit ersten Content Moderators Summit, bei dem sich Social-Media-Moderator*innen aus verschiedenen Unternehmen treffen, um sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen.