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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte 9-Euro-Ticket-Nachfolger als Chance für einen barrierefreien Nahverkehr

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK
Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Foto: VdK / Marlene Gawrisch

Die Diskussion um ein kostengünstiges ÖPNV-Ticket sollte genutzt werden, um ein attraktives Mobilitätsangebot für wirklich alle Bevölkerungsgruppen zu gestalten, fordert VdK-Präsidentin Verena Bentele.

von Verena Bentele

veröffentlicht am 16.09.2022

aktualisiert am 12.01.2023

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Nach dem erfolgreichen Neun-Euro-Ticket in den Sommermonaten wird nun nach einer ebenso erfolgreichen Nachfolgelösung für den Nah- und Regionalverkehr gesucht. Zurzeit stehen gerade die Diskussionen um die Finanzierbarkeit zwischen Bund und Ländern sowie die Fragen eines günstigen Ticketpreises im Mittelpunkt. Es ist jetzt schon klar, dass Menschen in der Grundsicherung oder mit kleinen Einkommen und Renten Monatspreise zwischen 49 bis 69 Euro nicht bezahlen können. Auch für sie muss es bezahlbare Lösungen, beispielsweise den Kauf von preislich gestaffelten Tagestickets, geben. 

Natürlich sind diese Finanzierungs-Diskussionen und vor allem die Frage nach einer erschwinglichen Nachfolgelösung für alle Fahrgäste wichtig. Mir als Präsidentin des größten Sozialverbandes in Deutschland mit über 2,1 Millionen Mitgliedern ist es aber auch wichtig, dass noch eine ganz andere Debatte geführt wird: Wie können wir die Einführung eines kostengünstigen Tickets nutzen, um ein attraktives Mobilitätsangebot für wirklich alle Bevölkerungsgruppen zu gestalten? Und damit meine ich vor allem für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen.

Bewegungseinschränkung für mobilitätseingeschränkte Menschen

Hierfür braucht es einen flächendeckend barrierefreien ÖPNV. Denn bei all den Erfolgsmeldungen, wie Menschen mit dem Neun-Euro-Ticket den ÖPNV für sich entdeckt haben und mal wieder Freunde und Familie kostengünstig besuchen konnten, darf nicht unterschlagen werden, dass Menschen mit Behinderung in den Sommermonaten das preislich attraktive Angebot kaum nutzen konnten: zu voll die Bahnsteige, zu viele Menschen in den Abteilen, zu viele Fahrräder für Wochenendausflüge in den Waggons, zu wenig Stellplätze für Rollstühle oder Rollatoren.

Das Neun-Euro-Ticket hat auf der einen Seite mehr Bewegungsfreiheit geschaffen, auf der anderen Seite war der Boom eine echte Bewegungseinschränkung für die, die nicht zwei Stunden stehen können. Nur wenn der öffentliche Nahverkehr von wirklich allen genutzt werden kann, können wir von einem erfolgreichen Angebot sprechen – das kann nicht alleine vom Ticketpreis abhängen.

Die zahlreichen Nachrichten unserer VdK-Mitglieder haben mir gezeigt: Der öffentliche Nahverkehr in seiner aktuellen Struktur und Ausstattung ist den hohen Passagierzahlen überhaupt nicht gewachsen und kann Menschen mit Behinderung nur sehr, sehr eingeschränkt von A nach B bringen. Von daher lautet unsere Forderung: Deutschland braucht einen schnellen barrierefreien Ausbau des Nah- und Regionalverkehrs.

Für die einen ist es zu Zeiten einer Energie- und Klimakrise eine folgerichtige Maßnahme, für Andere ist es vor allem eine Frage der sozialen Teilhabe – beides stimmt und darf nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden. Die Einführung eines barrierefreien ÖPNV wurde, auch auf Druck des VdK, im Personenbeförderungsgesetz mit einer Frist zum 1. Januar diesen Jahres gesetzlich festgeschrieben. Leider müssen wir feststellen, dass dies in vielen Bereichen unseres Landes nicht geschehen ist. Bund und Länder können sich nach dem Verstreichen ihrer eigenen Frist umso weniger aus diesem Thema raushalten. 

Menschen mit Behinderungen sind eine der Kernzielgruppen des ÖPNV

Klar ist natürlich schon seit vielen Jahren, dass die Frage der sozialen Teilhabe nicht einfach zu beantworten ist, denn die Herausforderungen eines solchen Ausbaus sind mannigfaltig. Das fängt mit der derzeitig lückenhaften Ausstattung der Züge an. Hier muss es mehr Sitzplätze für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen geben, diese müssen von außen kenntlich gemacht und auf den digitalen Anzeigen am Bahnhof ausgewiesen werden. Zudem müssen die Flächen für Rollatoren und Rollstühle von den Fahrrädern getrennt werden: Menschen mit Behinderung sind Reisende und keine Fracht.

Wichtige Details wie mehr Haltegriffe und –stangen, eine bessere und für alle verständliche Beschilderung und mehr barrierefreie Toiletten sollten eine Selbstverständlichkeit sein. Wenn dann noch eine höhere Zugtaktung und eine bessere Personalausstattung dazu kämen, wäre der ÖPNV auch in Zeiten steigender Fahrgastzahlen auch für Menschen mit Behinderungen nutzbar. Dies ist insofern besonders wichtig, als dass Menschen mit Behinderungen zu einer der Kernzielgruppen des ÖPNV gehören. Für viele von ihnen sind die Ziele im Nahbereich nur mit dem ÖPNV erreichbar, da zum Beispiel für blinde Menschen das alleine durch eine Stadt wie Berlin Radeln ausgeschlossen ist.

Das politisch erklärte Ziel ist eine Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030. Doch was können Menschen, die schlecht zu Fuß sind und auf einen überfüllten Regionalzug treffen, angesichts dieses Vorhabens tun? Da der so dringend notwendige Ausbau weiterhin stockt, braucht es auch kurzfristige Lösungen, damit niemand nur die Rücklichter des Zuges sieht. Einfache Zwischenlösung wäre, dass es deutlich mehr ausgewiesene Plätze für die Besitzer eines Schwerbehindertenausweises gibt. Wenn im Ausweis steht, dass eine Person Mobilitätseinschränkungen hat und nicht gut stehen oder gehen kann, so muss es ein ausreichendes Angebot für diese Kundinnen und Kunden geben. Nur auf den guten Willen anderer Fahrgäste zu vertrauen, ist kein Patentrezept. 

Barrierefreiheit von vornherein mitzudenken spart Geld

Doch was gibt es für Möglichkeiten in strukturschwachen Regionen in Deutschland, um mehr Menschen ohne Auto mobiler zu machen? Seit den 1990er Jahren wurden unzählige Bahnhöfe und Zugstrecken in der Provinz stillgelegt. Ob die jemals wieder zum Leben erweckt werden, ist mehr als fraglich. Ich kann mir vorstellen, dass E-Mobilität, mehr Fahrgemeinschaften und irgendwann, in einer nicht allzu fernen Zukunft auch das autonome Fahren, gute Möglichkeiten bieten auch für bisher mobilitätseingeschränkte Menschen.

Es gibt immer mehr Modellprojekte, Fahrgemeinschaften fernab von Bus- und Bahnlinien anzubieten. Warum können diese nicht auch barrierefrei für Menschen mit Behinderung ausgeweitet werden? Sogenanntes Ridepooling ist in Großstädten wie in Berlin oder anderen Metropolregionen schon weiter verbreitet, auf dem Land sind die Kommunen gefragt, solche Angebote bezahlbar zu machen und damit speziell Senioren und Menschen mit Behinderung anzusprechen

In einer alternden Gesellschaft, die Deutschland nun einmal ist, müssen Mobilitätslösungen mehr und mehr barrierefrei umgesetzt werden. Die Nachfolgelösung des Neun-Euro-Tickets kann eine Chance für einen besseren barrierefreien Ausbau sein. Ich bin mir sicher, dass jetzt all die Vertreter aus Bund und Ländern, die für die Finanzen zuständig sind, die Augenbrauen hochziehen und sich fragen, wie all das finanziert werden soll. Ich kann ihnen zumindest einen guten Tipp zur Lösung dieser Frage geben: Bauen Sie lieber gleich barrierefrei und flächendeckend aus! Nachrüsten, Bahnhöfe später barrierefrei umbauen und Treppen durch Rampen ersetzen, ist immer teurer als gleich richtig zu planen.

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