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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Baut Radwege – und es wird mehr geradelt

Elke Van den Brandt, Mobilitätsministerin in der Region Brüssel
Elke Van den Brandt, Mobilitätsministerin in der Region Brüssel Foto: PR

Während der Pandemie hat Brüssel mehr als 40 Kilometer neue Radwege gebaut, zunächst provisorisch. In Folge stieg der Anteil der Radfahrerinnen und -fahrer rapide an, schreibt Elke Van den Brandt. Die Ministerin für Mobilität in der Region Brüssel hält heute auf dem Radverkehrskongress eine Keynote und wirbt darum, es der europäischen Hauptstadt gleich zu tun, um eine schnelle Umverteilung des öffentlichen Raums zugunsten von Fußgängern und Radfahrerinnen zu erreichen.

von Elke Van den Brandt

veröffentlicht am 27.04.2021

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Jahrzehntelang haben sich die politischen Entscheidungsträger in Brüssel mehr auf die Menschen konzentriert, die durch die Stadt fahren, als auf jene, die in der Stadt leben. Als Hauptstadt Belgiens und Europas beherbergt Brüssel eine Vielzahl von Unternehmen, Institutionen und ist der Hauptsitz zahlreicher Organisationen. Jeden Tag pendeln nicht weniger als 365.000 Menschen nach Brüssel – viele von ihnen mit dem Auto. Das entspricht fast einem Drittel aller Einwohner. 

Die Brüsseler waren es irgendwann leid, dass der Durchgangsverkehr die Straßen beherrschte. Sie fingen an, sich für sicherere Straßen und saubere Luft zu engagieren und setzten eine entsprechende Agenda für die Kommunal- (2018) und Regionalwahlen (2019). Die Wahlen führten zu einem grünen Schub, die grünen Parteien konnten sich mit ihrem Versprechen für mehr Lebensqualität für die Einwohner durchsetzen.

Die Idee, Brüssel wieder zu einer Stadt für die Menschen zu machen, basiert auf drei Säulen. Erstens: die Luftqualität, da Brüssel unter den Top 3 der Städte mit den meisten Staus und der schlechtesten Luft ist. Zweitens: erschwinglicher Wohnraum, angesichts explodierender Mietpreise und einem Mangel an Sozialwohnungen. Drittens: die Verkehrssicherheit, mit einem Schwerpunkt auf Fußgängern und Radfahrern. Brüssel hatte einen jahrzehntelangen Nachholbedarf an sicherer Fahrradinfrastruktur – die Stadtplanung richtete seit jeher auf das Auto aus. Im Jahr 2019 war die Radverkehrsinfrastruktur in Brüssel noch in einem ganz frühen Stadium – von einigen Ausnahmen abgesehen.

Corona legte die ungleiche Platzverteilung offen

Als die Corona-Pandemie Europa erreichte, war Brüssel bereits dabei, aktivere Mobilitätsformen zu planen. Der Mobilitätsplan „Good Move” legte den Grundstein für eine neue urbane Mobilität: mit Vorrang für Fußgänger, Radfahrer und öffentliche Verkehrsmittel. Wie viele andere europäische Länder auch, sah sich auch Belgien im Frühjahr 2020 mit einem rund eineinhalbmonatigen, harten Lockdown konfrontiert. Die Autonutzung wurde fast komplett eingestellt. Der öffentliche Nahverkehr funktionierte nur noch stark eingeschränkt. Von Bars bis hin zu Fitnessstudios war alles zu, mit Ausnahme von Straßen und Parks. Dorthin gingen die Menschen, um durchzuatmen, Sport zu treiben oder um einfach mal eine Weile die Wohnung zu verlassen.

Die Straßen waren meist leer, die Bürgersteige dagegen viel zu voll. Plötzlich war die völlig unausgewogene Verteilung des öffentlichen Raums offensichtlich – selbst für die größten Skeptiker. Unsere Straßen sind groß genug – aber nicht, wenn sich jeder in einer großen Blechkiste fortbewegt.  

Die Brüsseler Regierung beschloss, schnell zu reagieren. In großen Teilen der Stadt, einschließlich des gesamten historischen Zentrums, wurde ein festes Tempolimit (max. 20 km/h) vorgeschrieben, Fußgänger erhielten Vorrang vor allen anderen Verkehrsarten. Bis dato fehlte es zudem an einer Radverkehrsinfrastruktur, zumindest im Vergleich zur (vorübergehend ungenutzten) Autoinfrastruktur.

Die Befürchtung war jedoch, dass nach dem Lockdown der Autoverkehr wieder zunehmen könnte, der ÖPNV gemieden und die Staus wieder mehr werden könnten – einhergehend mit Stress, Lärm und Luftverschmutzung. Wir beschlossen deshalb, 40 Kilometer Pop-up-Fahrradwege zu bauen, hauptsächlich auf den großen Zufahrtsstraßen in die Stadt. Dazu wurden Parkplätze oder Straßenraum in (temporäre) Fahrradinfrastruktur umgewandelt. 

Die Ergebnisse sind verblüffend. Während die Anzahl der Radfahrer zwischen 2010 und 2019 stabil um 13 Prozent jährlich stieg, schoss sie 2020 um 64 Prozent in die Höhe. Ein Wendepunkt für die ehemalige Autostadt. Das liegt nicht nur am Coronavirus. Internationale Untersuchungen zeigen, dass Städte, die aktiven Verkehrsmitteln mehr Priorität einräumen, einen viel größeren Anstieg von Radfahrern verzeichnen als Städte, die dies nicht tun. In Städten, in denen die Fahrradinfrastruktur ausgebaut wird, wächst die Zahl der Radfahrer um bis zu 48 Prozent mehr als in Städten, die keine neuen Radwege anlegen. 

Pop-up-Radwege haben sich als eine hervorragende Lösung erwiesen, um auf die stark gestiegene Nachfrage nach mehr Fahrradinfrastruktur zu reagieren. Es handelt sich im Wesentlichen um eine schnelle Umverteilung des öffentlichen Raums. Die Wetstraat in Brüssel ist ein gutes Beispiel. Vor der Pop-up-Fahrradspur bot die Straße, die ins Zentrum von Brüssel führt, zwölf Meter für Autos (vier Autospuren) und auf jeder Seite zwei Meter für Fußgänger und einen Meter für Radfahrer. Die neue Fahrradspur schafft ein besseres (wenn auch noch nicht perfektes) Gleichgewicht: Die Wetstraat besteht nun aus neun Metern Autospuren und weiteren neun Metern, die für Fußgänger und Radfahrer bestimmt sind.

Provisorien sollen verstetigt werden

Die Brüsseler Regierung konnte aus zwei Gründen so schnell handeln: Zum einen gab es bereits eine Vorstellung davon, wo die Radwege angelegt werden sollten. Der neue Mobilitätsplan wurde Anfang 2020 verabschiedet, konnte auf eine breite Unterstützung zählen und war der perfekte Rahmen für diesen massiven Rollout. Zum zweiten waren keine städtischen Genehmigungen nötig, weil die Radwege unter „Testinfrastruktur“ liefen. Mit ihren Farbmarkierungen und den Betonblöcken sind sie weder schön, noch sorgfältig designt – aber sie erfüllen ihren Zweck. Wären Genehmigungen für große infrastrukturelle Veränderungen erforderlich gewesen, hätte sich die Einführung um – mindestens – zwei Jahre verzögert.

Die Pop-up-Radwege ermöglichen es der Verwaltung, neue Strecken zu testen, zu evaluieren anzupassen (falls nötig) und erst dann dauerhaft einzurichten. Die Fahrrad-Community kann mitwachsen, und der öffentliche Raum wird neu verteilt. Die neuen Radwege beweisen den Autofahrern, dass die Umverteilung des öffentlichen Raums ein Gewinn für alle Verkehrsteilnehmer ist, und sie animieren dazu, das Rad für den Arbeitsweg zu nutzen. Bis die permanente Infrastruktur erreicht ist, sind auch genug Radfahrer da. Das Prinzip „Baue, und sie werden kommen“ funktioniert.

Die Brüsseler Regierung erstellt derzeit die Pläne für eine permanente Fahrradinfrastruktur. Die Pop-up-Radwege werden in den nächsten Jahren nach und nach verstetigt, sie werden Radfahren sicherer machen und für eine gleichmäßigere Verteilung der verschiedenen Verkehrsarten sorgen.

Unsere Arbeit hat gerade erst begonnen, noch ist Brüssel weit von der perfekten Fahrradstadt entfernt. Der Modal Shift ist ein gewichtiger und komplexer Wandel, bei dem es um Infrastruktur, menschliche Verhaltensweisen und politische Verhandlungen geht. Das kann manchmal chaotisch wirken. Aber die Lektion, die wir gelernt haben, ist klar: Es bringt nichts, auf perfekte Pläne und eine langfristige Entwicklung der Radinfrastruktur zu warten. Es geht vielmehr darum, schnell zu handeln und Platz für neue Radfahrer zu schaffen. Sie werden kommen garantiert.

Elke Van den Brandt, Ministerin der Regierung der Region Brüssel-Hauptstadt, zuständig für Mobilität, öffentliches Bauwesen und Straßenverkehrssicherheit, hält auf dem heute und morgen stattfindenden 7. Nationalen Radverkehrskongress eine Eröffnungskeynote.

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