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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Statt neun Euro: Ein-Euro-Ticket auf dem Land

Marian Zachow, Vizelandrat in Marburg-Biedenkopf
Marian Zachow, Vizelandrat in Marburg-Biedenkopf Foto: privat

Was kommt nach dem Neun-Euro-Ticket? Die Diskussion um die Zukunft des ÖPNV ist in vollem Gange. Wir müssen den ländlichen Raum mehr in den Blick nehmen, fordert Vizelandrat Marian Zachow. Und schlägt ein Ein-Euro-Ticket vor, was ganz anders ist als vieles, was heute unter dem Stichwort Ein-Euro oder Neun-Euro diskutiert wird. Unkompliziert, übersichtlich, sozial gerecht – und nur für den ländlichen Raum.

von Marian Zachow

veröffentlicht am 27.06.2022

aktualisiert am 12.01.2023

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Machen wir Schluss mit den alarmistischen Diskussionen, das Neun-Euro-Ticket sei schuld am Bahn-Chaos. Sicher kann man diskutieren, ob die Milliarden-Beträge für Bahn- (und Tank-)Rabatt besser in eine strukturelle Verbesserung der Finanzausstattung für den ÖPNV geflossen wären. Und ob eine solche „Rabattaktion“ in einem Sommer(ferien)-Zeitraum sinnvoll ist, den die Bahn traditionell für Baumaßnahmen nutzt. Letztlich wird das Ticket auch daran zu messen sein, ob die Bundesregierung wirklich die entstandenen Kosten ausgleicht – oder ob am Ende doch Kosten an Kommunen und Verkehrsunternehmen hängen bleiben.

Aber bei all dem darf man nicht übersehen, dass dieses Neun-Euro-Ticket viele Menschen, die sich von der Bahn entfremdet haben, wieder für Bahn und Bus interessiert. Das ist – als einmalige Marketing-Aktion – gerade jetzt wichtig und richtig. Eine drängende Frage bleibt aber, gerade wenn man überlegt, was vom Neun-Euro-Ticket bleiben soll: Ist das Neun-Euro-Ticket ungerecht? Viele Menschen im ländlichen Raum bemängeln, dass es für sie nicht interessant sei, weil sie zu weit von Haltestelle oder Bahnhof leben. Das weist auf ein Grundsatzproblem hin.

Einerseits haben wir den Nahverkehr in den Städten und Verdichtungsräumen – und dabei meine ich faktisch bereits jede Stadt oberhalb von 30.000 bis 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Hier gibt es meistens dichte Taktfolge und viele Verbindungen: Fahrgäste können sich an die Haltestelle stellen und losfahren, fast ohne auf den Fahrplan zu gucken. Diesem städtischen Verkehr mangelt es derzeit nicht an Fahrgästen; nicht selten können die Systeme sogar zusätzliche Fahrgäste kaum bewältigen, weil zunächst dringend notwendige Baumaßnahmen zur Kapazitätsausweitung benötigt werden. 

Kontrast zwischen Stadt und Land 

Demgegenüber steht der Nahverkehr im ländlichen Raum. Dieser ist zwar besser als sein Ruf, kämpft aber mit seinem Image. Das Angebot ist kaum vergleichbar mit dem in der Stadt. Mehr als ein Stundentakt wird selten angeboten, und in Tagesrandlagen bleiben oft wenige Möglichkeiten. In Marburg haben wir mit Mühe haben dafür gesorgt, dass man mit dem „Marburger Nachtstern“ noch um 23.45 Uhr in jede Gemeinde des Kreises kommt. Wer auf dem Land mit „Öffis“ unterwegs ist, muss sein Leben nach dem Fahrplan richten. Das hält viele Menschen von der ÖPNV-Nutzung ab. Hier müssen mehr Fahrgäste gewonnen werden, zumal – jedenfalls außerhalb der Schulverkehre – in Bussen und Bahnen oft noch reichlich Plätze frei sind. 

Jede(r) Unternehmer(in) würde in einer solchen Situation dort die Nachfrage stimulieren, wo das Angebot und Kundeninteresse gering(er) ist – also günstige Preise für den ländlichen Raum machen. Im ÖPNV ist das anders: Die Preisstruktur richtet sich de facto kaum nach der Angebotsqualität, sondern nach der Entfernung. Wer längere Strecken zurücklegt, zahlt mehr; ganz gleich wie attraktiv der Takt ist.

Als Beispiel: Eine Monatskarte für die Stadt Marburg mit Halbstundentakt und Verbindungen bis spät in die Nacht kostet knapp 50 Euro, während diejenige, der aus dem 25 Kilometer weiter entfernten Stadtallendorf dorthin pendelt, fast das Dreifache berappen muss, obwohl sie nur jede Stunde fahren kann und abends oft nur zu Fuß vom Bahnhof heim kommt. 

Wenn man über die Lehren aus dem Neun-Euro-Ticket nachdenken will, muss man den Blick schärfen – und aufs Land blicken. Jetzt will ich aber nicht das Neun-Euro-Tickets für den ländlichen Raum fordern: So ein Produkt schüfe neue Ungerechtigkeiten, wäre populistisch und ginge zulasten des ÖPNV. Das hieße nämlich, einen dauerhaften Rabatt von 70 bis 90 Prozent zu gewähren. Das würde dem ÖPNV mehr schaden als nützen. Denn der Finanzbedarf für den Nahverkehr wächst aufgrund steigender Kraftstoff- und Personalkosten fast exponentiell, zugleich muss das Angebot ausgeweitet und in Infrastruktur und Strecken-Reaktivierungen investiert werden. 

Trotz aller (Lippen-)Bekenntnisse zum ÖPNV werden – realistisch betrachtet – zu teure Flatrates letztlich dazu führen, dass das Geld an anderer Ecke fehlt und „unterm Strich“ weniger Geld für laufende Kosten und/oder Investitionen zur Verfügung steht. Pauschale Dumping-Preise für den ÖPNV sind daher fatal und falsch, differenzierte (bundesweite) Impulse zur Nachfragesteuerung hingegen bedenkenswert. 

Sozial fairer für Menschen mit wenig Geld

Ich plädiere daher für ein „Ein-Euro-Ticket für das Land“: Jeder Kunde soll die Möglichkeit bekommen, zusätzlich zur Monatskarte für eine größere Stadt einfach pro Kilometer, der weiter ins Umland führt, jeweils nur einen Euro-Aufpreis auf die Monatskarte zu zahlen. Statt 150 Euro würde die Monatskarte Marburg-Stadtallendorf dann nur 75 oder 80 Euro kosten. Und wer wirklich nur auf dem Land unterwegs ist, kann mit einem „echten“ Neun-Euro-Monats-Ticket von Grifte ins neun Kilometer entfernte Maden fahren – statt für heute mehr als 60 Euro.

Im Vergleich zu anderen Flatrate-Tickets handelt es sich dabei um einen vergleichsweise moderaten Rabatt, der schätzungsweise Einnahmeverluste von weniger als 20 Prozent verursachen dürfte, die durch die Bundesregierung auszugleichen sind. Denn natürlich darf ein solches Projekt nicht zu Lasten der Kommunen und Verkehrsunternehmen gehen.

So ein „Ein-Euro-Ticket auf dem Land“ hätte – auch weil es leicht verständlich und unkompliziert ist – großes Potenzial. Es dient zudem der Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung: Der ländliche Raum kämpft vielerorts mit Leerstand, während zugleich der „Flächenhunger“ für Neubaugebiete in Ballungsräumen wächst. Wenn wir den Verlust von Natur- und Land(wirt)schaftsraum stoppen wollen, geht dies nur, wenn man das Leben auf dem Land attraktiver macht und dort bereits vorhandenen Raum (wieder) nutzt.

Es wäre aber auch ein sozialpolitischer Meilenstein: Menschen mit niedrigem Einkommen stehen im ländlichen Raum aufgrund der vorhandenen Tarifstrukturen oft nur vergleichsweise teurere Monatskarten zur Verfügung. Sozial fairer wäre, wenn hier die Monatstickets für kleineres Geld zu haben wären.

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