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Agrar & Ernährung

Standpunkte Weckruf für eine kohärente, nachhaltige Politik für die gesamte Ernährungswirtschaft

Dr. Sabine Eichner ist Geschäftsführerin des Deutschen Tiefkühlinstituts e. V. und vertritt in dieser Position rund 150 überwiegend mittelständische Unternehmen aus allen Teilen der Tiefkühlkette von Industrie über Logistik und Handel
Dr. Sabine Eichner ist Geschäftsführerin des Deutschen Tiefkühlinstituts e. V. und vertritt in dieser Position rund 150 überwiegend mittelständische Unternehmen aus allen Teilen der Tiefkühlkette von Industrie über Logistik und Handel Foto: Deutsches Tiefkühlinstitut

Mehr unternehmerische Freiheit, weniger staatliche Vorgaben und weniger Bürokratie wünscht sich Sabine Eichner, Geschäftsführerin des Deutschen Tiefkühlinstituts, von der Politik. Die Unternehmen der Ernährungswirtschaft wüssten selbst sehr gut, was die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen. Dafür brauche es keine Ernährungsstrategie von oben.

von Sabine Eichner

veröffentlicht am 16.02.2024

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Bundesminister Cem Özdemir ist ein sympathischer, zugewandter Politiker, der im direkten Austausch stets Interesse zeigt und zuhört. Eigentlich eine gute Voraussetzung, um aus dem breiten Meinungsspektrum, das er von Bauern, Lebensmittelindustrie, Handel, Gastronomie, Verbraucherschützern, Wissenschaft und NGOs zu hören bekommt, eine vorausschauende, den Standort sichernde Politik für die Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland zu entwickeln. Doch nach dem hoffnungsvollen Start der rot-grün-gelben Fortschrittskoalition ist Ernüchterung eingetreten.  

Die Land- und Ernährungswirtschaft ist eine komplexe Wertschöpfungskette mit einer beeindruckenden wirtschaftlichen Kraft: 5,1 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten in 619.500 Betrieben für die Lebensmittelwertschöpfungskette. Das sind 11,4 Prozent aller Erwerbstätigen. Der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft hat also die politische Verantwortung für einen bedeutenden Sektor unserer Volkswirtschaft und für die Lebensmittelversorgung von mehr als 80 Millionen Menschen.

Eine zukunftsgerichtete Politik müsste daher die Rahmenbedingungen auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite verbessern. Nur das sichert eine wettbewerbsfähige und nachhaltige Agrar- und Lebensmittelwirtschaft – sowie eine vielfältige, sichere, hochwertige und bezahlbare Lebensmittelauswahl.

Immer weitgehendere Regulierungen

Doch ein Blick auf die Schwerpunkte der Regierung zeigt: Von einer gleichberechtigten Betrachtung von Angebots- und Nachfrageseite sind wir weit entfernt. Die politischen Aktivitäten richten sich einseitig auf die Erfüllung von vermeintlichen Verbraucherwünschen. Denn meist werden diese vorgetragen von NGOs, aber nicht von den Konsument:innen selbst.

Mit Ernährungs- und Reduktionsstrategien, mit Kennzeichnungen und Regulierungen soll die Nachfrage – und damit indirekt das Angebot – offenbar in die politisch gewünschte Richtung gelenkt werden. Der Blick auf die Rahmenbedingungen für die Lebensmittelerzeugung wird dagegen vernachlässigt. Die Bauernproteste zeigen dieses Missverhältnis eindeutig auf. Für die Angebotsseite enthalten die politischen Ansätze immer weitergehende Regulierungen, Vorschriften und Bürokratieanforderungen. 

Jüngstes Beispiel für diese Schieflage ist die Ernährungsstrategie der Bundesregierung. Sie gibt Leitbilder für die Ernährung der Bürger:innen aus, verengt die Perspektive unnötiger- und unrealistischerweise auf sogenannte „unverarbeitete“, regionale und Bio-Lebensmittel, stellt weitere nationale Kennzeichnungsvorhaben für die Transparenz von Lieferketten in Aussicht und lässt wissenschaftliche Nährwertprofile für Lebensmittel entwickeln, die für die Wirtschaft verbindlich werden sollen. 

Offenbar steht dahinter die Annahme, der Staat kenne die Bedürfnisse der Konsument:innen besser als die Lebensmittelunternehmer:innen. Dabei sind sie es doch, die täglich ihre Produkte verkaufen und ein sehr gutes Gespür für Veränderungen benötigen, damit sie langfristig am Markt erfolgreich sind.

Argumente der Wirtschaft werden zu wenig gehört

Die Ernährungswirtschaft ist zwar oberflächlich in die aufwändigen Stakeholderprozesse, etwa bei der Ernährungs- und der Reduktionsstrategie involviert. Die Argumente der Wirtschaft werden bei der politischen Ausgestaltung jedoch meist nicht berücksichtigt. Eine seriöse Einbindung sieht anders aus.  Ein Beispiel dafür ist die von Bundesernährungsminister Cem Özdemir angekündigte Ausweitung der verpflichtenden Herkunftskennzeichnung von Fleisch und Fleischprodukten in der Gastronomie, die erneut als nationaler Ansatz kommen soll. 

Behauptet wird, die Verbraucher:innen wollten das. Aber stimmt das überhaupt? Fest steht, dass solche Vorhaben für die Unternehmen mit hohen Kosten und noch mehr zusätzlicher Bürokratie verbunden sind. Wie passt das zusammen mit den politischen Beteuerungen, man wolle Bürokratie abbauen?

Stattdessen verirrt sich der Staat geradezu in einem immer wilder wuchernden Dschungel aus Regulierung und Lenkungsversuchen. Dabei gerät völlig aus dem Blickfeld, dass die Herstellung und Vermarktung von Lebensmitteln wirtschaftliche Tätigkeiten sind. Sie müssen sich für die Unternehmer:innen lohnen  und zwar nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch für Industrie und Handwerk, Handel und Gastronomie.

Wenn sich Lebensmittelherstellung nicht mehr lohnt, dann scheiden nicht nur immer mehr Landwirt:innen, sondern auch mittelständische Unternehmen aus Industrie, Handel und Gastronomie aus dem Markt aus. Wollen wir das?

Bessere Rahmenbedingungen schaffen

Die Aufgabe der Regierung wäre es daher, gute Rahmenbedingungen für diese wirtschaftlichen Aktivitäten zu schaffen, nicht zuletzt, um Nachhaltigkeits- und Klimaziele schneller zu erreichen. Denn: Die Unternehmen sind längst bereit für Veränderungen. Sie packen diese in konkreten Projekten längst an und stellen sich täglich auf veränderte Bedürfnisse von Kund:innen und Gesellschaft ein.

Dieses Potenzial an Know-how, Bereitschaft zu Fortschritt und Innovation ist ein enormer Hebel, den die Wirtschaft einbringen kann. Der Innovationsgeist und die kreative Kraft der Wirtschaft sollten nicht ausgebremst werden. 

Deswegen mein Weckruf: Es ist höchste Zeit für eine bessere, verlässliche Wirtschaftspolitik für die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft. Es geht um nichts weniger als die Erhaltung der Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit unserer Lebensmittelwirtschaft. Es ist Zeit, den Bürokratieabbau ernsthaft anzugehen und aufzuhören mit Scheindialogen ohne konkrete Ergebnisse.

Es ist Zeit, die Standortbedingungen für die Ernährungswirtschaft in Deutschland nachhaltig zu verbessern. Dafür braucht es eine ganzheitliche Strategie der Bundesregierung für die Angebots- und Nachfrageseite und Anstrengungen auf europäischer Ebene, um auch dort eine Politikveränderung zu bewirken, mit folgenden Zielen:

  • weniger Bürokratie und Regulierung
  • mehr Freiheit und Verantwortung für unternehmerische Entwicklung und Innovation
  • vorteilhafte Standortbedingungen für die Lebensmittelherstellung vom Acker bis zum Teller, mit bezahlbarer Energie, ausreichend Fachpersonal, effizienter Infrastruktur für Verkehr und Digitales sowie Steuerentlastungen
  • fairen Wettbewerbsbedingungen in der gesamten Ernährungswirtschaft
  • aufgeklärte, eigenverantwortliche Verbraucher:innen durch Bildung und hochwertige Gemeinschaftsverpflegungskonzepte

Die Bundesregierung kann durch eine Intensivierung des Dialogs mit der Wirtschaft, durch die Entschlackung von Vorschriften, durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und durch mehr öffentliche Investitionen eine sichere, gesunde und bezahlbare Ernährung für alle erreichen. So können wir gemeinsam die Zukunft nachhaltiger und wirtschaftlich erfolgreich gestalten.

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