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Agrar & Ernährung

Standpunkte Der Bürgerrat Ernährung ist ein demokratisches Vorzeigeprojekt

Simon Wehden, Ansprechpartner für Politik, Strategie und Klimaschutz beim Verein Klimamitbestimmung
Simon Wehden, Ansprechpartner für Politik, Strategie und Klimaschutz beim Verein Klimamitbestimmung

Inmitten von eskalierenden Konfrontationen in der Landwirtschaftspolitik und der Demokratiebedrohung durch Rechtsextremismus ist der Bürgerrat des Bundestages zur „Ernährung im Wandel“ ein Vorzeigeprojekt guter demokratischer Debattenkultur, meint Simon Wehden vom Verein Klimamitbestimmung. Die mediale Berichterstattung hat allerdings versäumt, Bauernproteste, Rechtsextremismus und die demokratische Debattenkultur in Bürgerräten zu verknüpfen.

von Simon Wehden

veröffentlicht am 26.01.2024

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Geht es Ihnen auch so? Immer mehr Krisen scheinen auf uns einzustürmen: Krieg in der Ukraine, Demokratiekrise, Klimakrise und Krise des Gesprächsklimas. Die Wissenschaft hat dafür einen Ausdruck: Polykrise. Krisen und Herausforderungen treten zunehmend gleichzeitig auf und lassen sich nicht klar voneinander trennen. Alles scheint mit allem zusammenzuhängen.

Dieser neue Modus kann Angst machen und er fordert uns heraus: Um diesen Großherausforderungen zu begegnen, genügt es nicht, sie nacheinander, getrennt voneinander oder nur eine davon „abarbeiten“ zu wollen. Stattdessen benötigen sie das Zusammendenken und die Fähigkeit, Komplexität auszuhalten. In einer Demokratie richtet sich dieses Gebot vor allem auch an die mediale Berichterstattung, die öffentlichen Meinungsträger:innen und Entscheidungsträger:innen.

In den letzten Wochen kamen drei solcher Herausforderungen zusammen: Die Bauernproteste, die Demokratiebedrohung durch Rechtsextremismus und der Abschluss des ersten Bürgerrates im Auftrag des Deutschen Bundestages zur „Ernährung im Wandel“. Es ist schockierend, wie wenig die mediale Berichterstattung und öffentliche Kommentierung in diesen Tagen in der Lage waren, diese drei Herausforderungen zusammenzudenken. Stattdessen wurden sie öffentlich zumeist unabhängig voneinander diskutiert – oder auch gar nicht.

Der Bürgerrat als „Goldstandard der Beteiligung“

Der Bürgerrat „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ soll dem Bundestag ein „differenziertes Meinungsbild“ davon vermitteln, was ein Querschnitt der Bevölkerung zum Thema Ernährung denkt, und Bürgerräte als Instrument zur „Belebung der Demokratie“ erproben.

Dafür nutzt der Bürgerrat im Wesentlichen drei Chancen:

Bürger:innen sind Expert:innen ihres Alltags und ihrer Werte. Die Teilnehmenden des Bürgerrates spiegeln die deutsche Bevölkerung in wesentlichen Kriterien wie Alter, Geschlecht oder Bildungshintergrund wider. So bringt er die verschiedensten Lebenswirklichkeiten der Bevölkerung in den Prozess ein und verschafft auch solchen Stimmen Gehör, die sonst häufig ungehört bleiben.

Die Diskussionen im Bürgerrat sind informiert. Vorträge von Expert:innen, Exkursionen zu Produktionsbetrieben und praktische Erfahrungen wie gemeinsames Einkaufen stellen die Diskussion der Teilnehmenden auf eine gemeinsame Wissensbasis.

Der Bürgerrat schafft Raum für Austausch und Verständigung. Anders als bei Meinungsumfragen oder Demonstrationen kommen die Teilnehmenden miteinander in ein moderiertes Gespräch – auch solche, die sich sonst im Alltag nie begegnen würden. So reden die Menschen außerhalb ihrer gesellschaftlichen Echokammern erst miteinander statt übereinander, bevor sie zu gemeinsamen Einschätzungen kommen.

In dreieinhalb Monaten Beratung ist der Bürgerrat zu neun konkreten Empfehlungen und einer übergeordneten Empfehlung gekommen. Damit adressiert der Bürgerrat das Ernährungssystem von der Produktion über den Handel bis hin zu den Verbraucher:innen und navigiert die verschiedenen Konflikte des Ernährungssystems:

Er erkennt an, dass Landwirt:innen finanzielle Unterstützung beim Umbau ihrer Produktion brauchen, und zeigt die Bereitschaft, diesen Umbau über eine Tierwohlabgabe mitzubezahlen. Nach dem Bürgerratsvotum ist Ernährung zunächst eine Privatsache. Aber in Anbetracht gesellschaftlicher Herausforderungen wie Gesundheit und Nachhaltigkeit ist es sehr wohl Aufgabe des Staates, dafür förderliche Rahmenbedingungen zu setzen – sowohl durch Steuern als auch vereinfachte Kennzeichnung. Da einzelne Herausforderungen im Ernährungssystem nach Einschätzung des Bürgerrates jenseits des Einflusses des „Privatindividuums“ liegen, wünscht er sich vom Staat mehr Engagement und ein aktives Eingreifen, um etwa die Entsorgung genießbarer Lebensmittel durch Supermärkte zu unterbinden.

Die Ergebnisse zeigen, dass Bürger:innen auch zu komplexen Themen fundierte Empfehlungen erarbeiten können, wenn der Beteiligungsprozess gut gestaltet ist. Bürgerräte gelten als „Goldstandard der Beteiligung“. Das Prozessdesign dieses ersten Bürgerrats des Bundestags erfüllt viele Qualitätsstandards und setzt auch international Maßstäbe: Beispielsweise haben die Teilnehmenden in der ersten Sitzung selbst festgelegt, welche Unterthemen sie im Rahmen des Bürgerrats diskutieren wollen. Das gewährleistet die Ergebnisoffenheit des Prozesses und verhindert, dass parteipolitische Erwägungen die Lösungsfindung verzerren.

Demokratische Debattenkultur im Kontext eskalierender Proteste und Rechtsextremismus

Gerade in diesen Wochen eskalierender und teilweise entgrenzter Konfrontation und Polarisierung am Rande der Bauernproteste ist der Bürgerrat Ernährung ein Vorzeigeprojekt guter demokratischer Debattenkultur. Der Bürgerrat benennt Missstände und zeigt Verantwortlichkeiten und Lösungsvorschläge auf. Er signalisiert eigene Veränderungsbereitschaft und öffnet einen Möglichkeitsraum jenseits von Populismus, Schwarz-Weiß-Denken und Vereinfachung.

Vor dem Hintergrund steigender Bedrohungen der Demokratie durch Rechtsextremismus wurden jüngst wieder Forderungen laut, die „schweigende Mehrheit müsse aufwachen“. Denn laut sind in der öffentlichen Debatte zumeist die extremen Ränder. Der Bürgerrat kann diese Logik der öffentlichen Polarisierung durchbrechen, da er der „schweigenden Mehrheit“ und Mitte der Gesellschaft eine Stimme gibt.

Schockierendes Versäumnis des medialen Zusammendenkens

Bisher ist die Stimme des Bürgerrates in der Lautstärke der öffentlichen Debatte jedoch kaum gehört worden und die Chance zum Zusammendenken ist mit einigen Ausnahmen versäumt worden. Die „Tagesschau“ berichtete am Tag der Veröffentlichung der Empfehlungen erst über die Thronfolge in Dänemark, bevor sie auf Bauernproteste, die Demokratiebedrohung durch Rechtsextremismus und Ausschreitungen bei sozialistischen Gedenkveranstaltungen einging.

Erst danach thematisierte sie gesondert einzelne Empfehlungen des Bürgerrats, ohne einen Bezug zu den Bauernprotesten und der Demokratiebedrohung herzustellen. Das Wort „Demokratie“ fiel in dem Beitrag kein einziges Mal.

Auch im sonntäglichen ARD Presseclub zur „Trecker-Revolte“ wurde der Bürgerrat nicht angesprochen, ebenso wenig wie in den Talkshows zu den Protesten in den vergangenen Wochen.

Als sich Cem Özdemir bei seiner Bundestagsrede letzte Woche für eine Tierwohlabgabe aussprach und explizit darauf verwies, dass dies „jetzt der jüngste Bürgerrat in seiner Empfehlung zur Ernährung auch nochmal gefordert hat“, wurden genau diese fünf Sekunden im abendlichen Tagesschaubeitrag rausgeschnitten. Scheinbar arbeiten die Redaktionen nach wie vor in Silos, die einzelne Journalist:innen mit dem Thema Bürgerrat betrauen, während andere über Landwirtschaft oder Rechtsextremismus schreiben.

Gleichzeitig konterkariert die mediale Berichterstattung zu Bürgerräten das Ziel der Bürgerräte, Brücken zu bauen, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln und hitzige Debatten zu versachlichen. Auf öffentlichkeitswirksamen Plattformen wie den Talkshows Markus Lanz oder Hart aber Fair wurden immer wieder missverständliche oder falsche Äußerungen über Bürgerräte getätigt und bewusst Teilnehmer:innen eingeladen, die extreme Positionen vertraten. Differenzierende Expert:innen einladen? Fehlanzeige.

Gemeinsame Verantwortung, der Stimme der Mitte Gehör zu verschaffen

Die Gleichzeitigkeit der Krisen erfordert von uns allen die Fähigkeit des Zusammendenkens. Um es offen zu sagen: Die Berichterstattung und öffentliche Kommentierung zu Bauernprotesten, Demokratiebedrohung und dem Bürgerrat Ernährung hat mich nicht nur enttäuscht, sondern mir echte Sorge bereitet.

Alle gesellschaftlichen Akteure, die sich für eine Stärkung des gesellschaftlich-demokratischen Miteinanders und eine Politik der Mitte einsetzen, sollten sich mit dem Bürgerrat Ernährung, seiner Funktionsweise und seinen Empfehlungen mit staatsbürgerlicher Ernsthaftigkeit und Lauterkeit auseinandersetzen. So können sie dazu beitragen, dass diese Stimme der Mitte in einer lauten, polarisierenden Debatte nicht untergeht.

Simon Wehden ist Mitgründer des Vereins Klimamitbestimmung und dort ehrenamtlich Ansprechpartner für Politik, Strategie und Transformation. Der Verein setzt sich für politisch einberufene Bürgerräte in der sozial-ökologischen Transformation ein und war in verschiedenen Bürgerratsprozessen in beratender und ausführender Funktion beteiligt. Neben seinem Ehrenamt promoviert Wehden an der TU Berlin zur Rolle des deutschen Handwerks in der Nachhaltigkeitstransformation.

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