Radikal ist die Kehrtwende der europäischen Landwirtschafts- und Naturschutzpolitik – und enttäuschend. Startete die Kommission von Ursula von der Leyen mit dem Green Deal doch überaus ambitioniert. Aber vor allem im letzten halben Jahr stellt sie viele Errungenschaften der europäischen Naturschutz- und Landwirtschaftspolitik infrage – oder begräbt sie stillschweigend. So steht auch das „Gesetz zur Wiederherstellung der Natur“ (Nature Restoration Law, NRL), ein Kernelement des Green Deals, auf der Kippe.
Diskutiert seit etwa zwei Jahren, ist das NRL ein typischer europäischer Kompromiss. In mancher Hinsicht wirkt es daher etwas altbacken: Neuere Erkenntnisse, etwa zu Ökosystemleistungen, werden vom NRL allenfalls angerissen. Auch lässt sich darüber streiten, ob es angesichts von Klima- und Landnutzungswandel überhaupt ein erstrebenswertes Ziel ist, zu „renaturieren“, also frühere Zustände wiederherzustellen, oder ob wir uns nicht besser darauf konzentrieren sollten, die zukünftigen zu optimieren. Diese Fragen waren offensichtlich auch unter den Befürwortern eines ambitionierten NRL zu konfliktträchtig. Daher fokussiert das NRL klassischen Naturschutz, vor allem für Lebensräume und Arten, auf die sich bereits die Fauna-Flora-Habitatrichtlinie (FFH-Richtlinie) bezieht.
Auch wenn hier mehr drin gewesen wäre: Das NRL wäre weiterhin ein großer Schritt vorwärts. Der Grund ist simpel: Bisher hat keine andere europäische Naturschutzrichtlinie, -politik und -verordnung der letzten Jahrzehnte ihre Ziele auch nur annähernd erreicht. So befinden sich europaweit nur 15 Prozent der Lebensräume und nur 27 Prozent der Arten der FFH-Richtlinie in einem „guten Erhaltungszustand“. Bei Oberflächengewässern befinden sich derzeit nur 40 Prozent in dem „guten ökologischen Zustand“, den sie nach der Wasserrahmenrichtlinie bis 2027 erreichen müssen. Wir brauchen also dringend einen neuen Schub.
NRL vermeidet die Fehler vorheriger Gesetze
Doch woher stammt der Optimismus, dass sich diese trübselige Situation mit dem NRL verbessern könnte? Die Kommission hat tatsächlich aus den Umsetzungsproblemen vorheriger Richtlinien und Verordnungen gelernt. Das NRL vermeidet Fehler, welche die Umsetzung europäischer Rechtsvorschriften sonst oft beeinträchtigen: Zum einen kann es als Verordnung unmittelbar umgesetzt werden – ohne jahrelange Entwicklungen von Bewertungsverfahren und Indikatoren, wie etwa bei der Wasserrahmenrichtlinie. Außerdem nennt das Gesetz klare und verbindliche Ziele – wie diese erreicht werden, ist jedoch den Mitgliedsstaaten überlassen. Und schließlich sind die Ziele zeitlich gestaffelt und mit Zwischenschritten versehen: ein Vorteil gegenüber den unflexiblen und häufig unrealistischen Zeitplänen anderer EU-Gesetze.
Was heißt das konkret? Zunächst definiert das NRL für Natura-2000-Gebiete gestufte Ziele und Zeitvorgaben, um dort auf 90 Prozent der Fläche bis 2050 einen guten Zustand zu erreichen. Zudem definiert es Ziele für verschiedene Lebensraumtypen: Für Agrarökosysteme bedeutet das beispielsweise, dass auf nationaler Ebene der „Anteil der landwirtschaftlichen Flächen mit Landschaftsmerkmalen hoher Vielfalt“ in der Tendenz – also ein recht flexibles Ziel – steigend sein muss. Zudem soll die Hälfte aller trockengelegten Moore bis 2050 wiederhergestellt, sprich vernässt werden.
Umgesetzt werden soll all dies mittels nationaler Renaturierungspläne. Wobei – und das ist ein entscheidender Punkt – die Mitgliedstaaten selbst entscheiden dürfen, ob sie dafür auch Mittel der Gemeinsamen Agrarpolitik einsetzen, gezwungen wird dazu niemand. Angesichts massiven Widerstandes vieler Seiten wurde den Mitgliedstaaten in den Verhandlungen ein weiteres Zugeständnis gemacht: Sie können die Umsetzung des NRL auf Agrarflächen aussetzen, wenn ihre landwirtschaftliche Produktion in Gefahr sein sollte.
Starkes Gesetz – starker Widerstand
Das NRL definiert somit im Gegensatz zu vielen Strategien, Politiken und Richtlinien der EU klare Ziele und Deadlines und schafft dadurch Verbindlichkeiten – mit dem Ziel, die Natur in Europa zu retten.
Weil es so ein starkes Gesetz ist, mag es letztlich nicht überraschen, dass vehement um Details gestritten wurde, teils in regelrechten Desinformationskampagnen. Die meisten der besonders hartnäckig vorgetragenen Gegenargumente halten aber einem Faktencheck nicht stand.
Ein besonders häufiges Argument: 10 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche müssten aus der Produktion genommen werden – so wurde es auch dann noch wiederholt, nachdem der entsprechende Passus überhaupt nicht mehr im Gesetzentwurf auftauchte. Ein weiteres Angst-Szenario: Die Ernährungssicherheit würde bedroht. Dabei hat die EU selbst bei konsequenter Umsetzung des NRL viele Stellschrauben, um weiter zu garantieren, dass es genug Nahrungsmittel in der Union gibt. Der zwischenzeitliche Anstieg der Getreidepreise durch den Krieg gegen die Ukraine konnte schon bis Anfang 2023 weitgehend aufgefangen werden.
Kein Verlust von Arbeitsplätzen in ländlichen Räumen
Dazu kommt die Furcht, dass die Fischereierträge zurückgehen würden. Die Studienlage dazu ist unklar, aber es gibt in der Tat Hinweise darauf, dass Meeresschutzgebiete dazu führen können, dass der Ertrag der Fischerei sogar steigt. Dass obendrein ein Verlust von Arbeitsplätzen in ländlichen Regionen drohen würde: Dazu gibt es schlicht keine überzeugenden Prognosen oder Studien.
Schon im Umweltausschuss des EU-Parlaments gab es zunächst ein Patt von Befürwortern und Gegnern. Erst eine nachverhandelte und deutlich abgeschwächte Version konnte verabschiedet werden. Weitere Modifikationen – inklusive Abschwächungen – folgten in den Trilogverhandlungen zwischen Kommission, Parlament und Ministerrat. Zwar erreichte diese viel weniger starke Version im Parlament noch eine knappe Mehrheit, im Ministerrat hingegen zeichnet sich derzeit keine qualifizierte Mehrheit ab. Die Abstimmung wurde daher zunächst verschoben.
Schicksal weiterhin ungewiss – aber es bleibt eine Chance
Ungewiss ist daher das Schicksal des NRL. Möglich, dass der Ministerrat noch einen Weg findet, das NRL ohne Gesichtsverlust für die derzeit ablehnenden Staaten und trotz der anstehenden Europawahlen über die Ziellinie zu bringen. Vielleicht muss aber auch erst der Wahlkampf abebben, um die Chancen darauf zu erhöhen.
Jedenfalls müssen wir alle uns klarmachen: Ein Gesetz für die Wiederherstellung der Natur wird zentral sein, um internationale Verpflichtungen zu erfüllen, den Biodiversitätsrückgang in Europa aufzuhalten – und damit langfristig Ökosysteme und landwirtschaftliche Produktion zu erhalten.