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Agrar & Ernährung

Standpunkte EU-Naturschutz unter Traktorrädern? Ein Aufruf zur Besinnung

Svane Bender, Bereichsleiterin für Naturschutz und Biologische Vielfalt bei der Deutschen Umwelthilfe
Svane Bender, Bereichsleiterin für Naturschutz und Biologische Vielfalt bei der Deutschen Umwelthilfe Foto: Foto: Kristin Zander

Das Europaparlament entscheidet noch in dieser Woche über eines der kontroversesten Vorhaben dieser Legislatur: Wird der Umweltschutz der GAP gelockert? Svane Bender von der Deutschen Umwelthilfe warnt vor solch übereilten EU-Entscheidungen zugunsten der industriellen Agrarwirtschaft. Auf der Kippe stehen langjährig erarbeitete Kompromisse für Natur- und Artenschutz und die Zukunftsfähigkeit der gesamten Branche, schreibt die Landschaftsökologin.

von Svane Bender

veröffentlicht am 23.04.2024

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Blockaden, Misthaufen und brennende Reifen auf den Straßen – die Bauernproteste haben neue Dimensionen angenommen. Die EU-Kommission und der Agrarausschuss im EU-Parlament fühlen sich unter Druck. Die bislang fatalste Folge:

Per Dringlichkeitsverfahren sollen am 25. April eine Reihe verpflichtender Umweltleistungen in der Landwirtschaft abgeschafft werden. Dabei wurden diese über Jahre mit allen Stakeholdern verhandelt, um die 55 Milliarden Euro jährlicher Agrarsubventionen grüner und gerechter zu verteilen.

In einem irren Tempo und ohne öffentliche Anhörung oder Folgenabschätzung will das EU-Parlament noch vor der Wahl Umweltstandards schleifen. Maßnahmen zum Ökosystem-, Arten- und Bodenschutz sollen im Turbogang untergepflügt werden, etwa die Auflage, vier Prozent des Ackerlandes für natürliche Gehölze, Blühstreifen oder Bäume bereitzustellen und mehr Vielfalt auf dem Feld zu garantieren. Werden diese Vorschläge am Mittwoch beschlossen, könnte das laut Wissenschaftlern einen umweltpolitischen Rückschritt von etwa 10 bis 15 Jahren bedeuten.

Der Bauernverband Copa-Cogeca, dessen Mitglied auch der Deutsche Bauernverband (DBV) ist, befürwortet diese Abschwächung der Umweltmaßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik (GAP). Zwei andere Bauernverbände, IFOAM-Organics und European Coordination Via Campesina, haben sich ausdrücklich gegen jede Abschwächung ausgesprochen.

Die konservativ-rechte Mehrheit im Agrarausschuss des Europäischen Parlaments unter der Führung des deutschen CDU-Politikers Norbert Lins macht währenddessen Druck für das Dringlichkeitsverfahren ohne öffentliche Beteiligung und ohne Debatte. Zur Abstimmung stehen aber auch sinnvolle Änderungsanträge, mit denen die Abgeordneten die Debatte über die umweltfeindlichen Kommissionsvorschläge in demokratischere Bahnen lenken können – in den Zeitraum nach den Wahlen und ohne Wahlkampfgetöse.

Verheerende Folgen für Insekten- und Feldvogelarten

Ein Votum für die Streichungen von Umweltanforderungen hätte allerdings in jedem Fall verheerende Folgen: Die ohnehin raren natürlichen Rückzugsräume für Insekten- und Feldvogelarten würden ersatzlos verschwinden. Die positiven Wirkungen von diversen Fruchtfolgen auf die Bodengesundheit und -fruchtbarkeit, Wind- und Wasserpuffermöglichkeiten fallen weg. Und: Die langfristig negativen Konsequenzen werden ausgerechnet die Landwirtinnen und Landwirte tragen müssen – und letztlich die ganze Gesellschaft.

Diese Verkettung wird aber verkannt: Statt den Zusammenhang von gesunden Ökosystemen, produktiver Landwirtschaft und menschlichem Wohlergehen nachhaltig zu sichern, verhindert die Lobby der Agrar- und Ernährungsindustrie – auch in Gestalt von Copa-Cogeca – die dafür notwendigen Gesetze. So fehlen jetzt das Rahmengesetz für nachhaltige Lebensmittelsysteme oder die Pestizidrichtlinie (SUR) – beide eigentlich Herzstücke des EU Green Deal. Unterdessen steigt der Pestizidverkauf in Deutschland. Für den Absatz von Ackergiften und um billige Rohstoffe zu erhalten, verlangen Agrar- und Ernährungsindustrie den Abbau von Umweltstandards und fordern mehr pauschale Subventionen. Echte Bauernverbände erkennt man daran, dass sie Gesetze für faire Erzeugerpreise fordern.

Die Zitterpartie um das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (Nature Restoration Law) und die Deregulierung der Gentechnik ist derweil noch nicht zu Ende. Auch hier handeln die EU-Kommission und das Parlament keinesfalls mit der gebotenen Weitsicht und Unabhängigkeit. Es wächst die Sorge, die Agrarindustrie in Europa könnte durchregieren – auf Kosten unserer Lebensgrundlagen in Feld und Flur.

Mit Blick auf die bevorstehende Abstimmung zur GAP heißt das unter anderem: Von den bereits stark zurückgegangenen Vogelpopulationen in Europa müssten wir uns im Beschlussfall verabschieden. In den vergangenen 40 Jahren sind die Bestände um mehr als eine halbe Milliarde Individuen zurückgegangen – der Kommissionsvorschlag zum Rückbau der GAP-Umweltauflagen wird den Druck auf die Bestände nochmals dramatisch erhöhen. Denn der flächige Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln in der Landwirtschaft ist mitverantwortlich für die Zerstörung von Lebensräumen. Dass die EU-Kommission Anfang 2024 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen ungenügendem Schutz der Feldlerche eingeleitet hat und nun vorschlägt, Subventionen auch dann zu zahlen, wenn die letzten Rückzugsgebiete genau dieser Vögel zerstört werden, ist nicht konsistent. Es offenbart aber die Nervosität, die vor den Wahlen im konservativen Lager von Ursula von der Leyen vorherrscht.

Die Hauptsorgen der Landwirtinnen und Landwirte sind Klimakrise, Wasserkrisen und volatile Weltmarktpreise. Politisch und ökonomisch rational wäre es daher, klimafreundliche Höfe maximal zu entlohnen und die Rechte der Bauern und Bäuerinnen so zu stärken, dass steigende Erzeugerkosten an die Nahrungsmittelindustrie und Supermärkte weitergegeben werden können.

56 Prozent fühlen sich nicht vom DBV vertreten

Das Gegenteil erreichen pauschale Agrarsubventionen: Schon längst sind sie als klimaschädlich entlarvt und schaden dem Ansehen der Landwirtschaft. Millionen Menschen haben beispielsweise Volksinitiativen für besseren Insektenschutz in Bayern und Baden-Württemberg unterzeichnet. Eine Umfrage unter französischen Bauernhöfen zeigt, dass 62 Prozent den ökologischen Wandel in der Landwirtschaft für eine Notwendigkeit halten. In Deutschland fühlen sich 56 Prozent der Bäuerinnen und Bauern schlecht oder sehr schlecht vom DBV vertreten. Agrarbetriebe warnen selbst bereits, dass die anvisierte Lockerung der GAP-Standards zu mehr Monokulturen, mehr Pestizideinsatz und weniger Raum für den Artenschutz führen könnte. Außerdem fürchten sie einen entsprechenden Anschub der Überproduktion von Getreide, Mais, Milch und Fleisch, was den Preisverfall zusätzlich anheizen dürfte.

Wer dagegen ein faires Auskommen für Bäuerinnen und Bauern sichern will, muss die Überproduktion abbauen und die längst erbrachten Umweltleistungen deutlich stärker fördern. Agrarökologische Höfe erhalten mit vielfältigen Fruchtfolgen, Humusaufbau, mit Wiesen und Weiden sowie Brachen geldwerte Ökosystemleistungen der Natur. Wer dafür nicht anständig zahlt, riskiert, dass diese Leistungen für die Allgemeinheit wegbrechen. Die Rechnung für die daraus resultierenden Umweltschäden und ihre teils irreversiblen Folgen bedingen eine viel höhere Rechnung: Fehlende Bestäuber im Obst- und Gemüsebau, zunehmende Wasser- und Winderosion, Hochwasserschäden und zu viel Nitrat und Phosphat im Grundwasser können das Fundament der Lebensmittelproduktion in Europa zerstören. EU-Entscheidungsträger:innen müssen sich angesichts dessen besinnen – und zwar schnell.

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