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Agrar & Ernährung

Standpunkte „Ohne Natur ist alles nichts“

Jutta Paulus, Europaabgeordnete der Grünen
Jutta Paulus, Europaabgeordnete der Grünen Foto: EU-Parlament

Intakte Ökosysteme sind Klimaschützer und eine Lebensversicherung für den Menschen, schreibt Jutta Paulus in ihrem Standpunkt zum Nature Restoration Law der EU. Es wird kommende Woche eine entscheidende Hürde im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments nehmen müssen.

von Jutta Paulus

veröffentlicht am 23.11.2023

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Lieben Sie die Natur und wenn ja, wie äußert sich Ihre Liebe?“, fragt Lothar Frenz in seinem Buch „Die Zukunft von Natur und Mensch“ und wirft damit eine Frage auf, die kitschig klingt, aber im Kern rational ist. Niemand von uns würde den ersten Teil ernsthaft mit Nein beantworten. Wir bewegen uns gern in der Natur oder verbringen unseren Urlaub dort, wo es echte Wälder und saubere Seen gibt.

Doch nur durch die Leistungen der Natur haben wir saubere Luft zum Atmen und fruchtbare Böden für unsere Ernährung. Daher ist Natur nicht nur auf der emotionalen Ebene so wichtig, sondern intakte Ökosysteme sind unsere Lebensversicherung – und seit Kurzem gibt es ein neues europäisches Gesetz, um wilden Pflanzen und Tieren in Europa wieder bessere Lebensbedingungen zu geben.

Europas Green Deal wird vollständig

Denn der Natur vor unserer europäischen Haustür und weltweit geht es gar nicht gut. Vier von fünf Bäumen in Deutschland sind krank. Über 81 Prozent der geschützten Ökosysteme in Europa sind in keinem guten Zustand. 50 Prozent der Feldvogelbrutpaare sind seit 1980 verschwunden, und in den letzten 30 Jahren haben wir 75 Prozent der Insektenbiomasse verloren. Hummeln, Feldlerchen, Steinschmätzer: Auf unseren Wiesen und Äckern wird es immer stiller und die intakten Ökosysteme zerfallen langsam, aber sicher, weil wir sie mit Autobahnen zerschneiden oder durch die intensive Landwirtschaft in Bedrängnis bringen.

Genau das ist der Grund, wieso die Europäische Kommission vergangenes Jahr das Nature Restoration Law vorgestellt hat – also das Gesetz zur Rettung der Natur. Damit vollzog sie nach drei Jahren Green Deal den notwendigen Schritt, um das Artensterben zu stoppen, den Ökosystemen wieder Luft zum Atmen zu geben und ihre Funktion als Klimaschützer zu erhalten.

Ohne Natur ist alles nichts

Allein mit der Ökosystemleistung Bestäubung sichern Insekten 12 Prozent des durchschnittlichen Jahresgewinns des EU-Agrarsektors, und Bienen sind in Deutschland an der Bestäubung von 80 Prozent unserer Nahrungspflanzen beteiligt. Sie sind damit ein wahrer Garant für unsere Lebensmittelsicherheit. Unabhängig davon müssen 30 bis 50 Prozent der kohlenstoffreichen Ökosysteme laut Weltklimarat IPCC renaturiert werden, um die Erderhitzung auf unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. Die CO2-Speicherung durch gesunde Ökosysteme würde dazu beitragen und ist fest im EU-Klimaziel für 2030 einberechnet; zehn Prozent der notwendigen Emissionsminderungen sollen so erreicht werden.

Am wichtigsten für den Klimaschutz: Wir müssen Moore wiedervernässen. Obwohl sie nur drei Prozent der Landoberfläche bedecken, speichern sie doppelt so viel CO2 wie alle Wälder zusammengenommen.

Aber natürlich brauchen wir auch intakte Wälder. Wo derzeit aufgrund der Klimakrise unsere heimischen Fichtenstangenplantagen reihenweise absterben, müssen Mischwälder entstehen, die CO2 binden, den Nährstoffkreislauf wiederbeleben und Wasser speichern und säubern. Denn entgegen der vorherrschenden Auffassung bekommen wir sauberes Trinkwasser nicht aus der Flasche, sondern aus der Natur – die Industrie verpackt es nur in erdölbasiertes Plastik und verdient damit Geld. Anders gesagt: Ohne Natur ist alles nichts, und genau das will das europäische Renaturierungsgesetz wieder in den Vordergrund stellen.

Ein Meilenstein namens Nature Restoration Law

Nachdem die erste Blockade durch die konservative EVP-Fraktion im Europäischen Parlament überwunden wurde, haben wir jetzt nach Wochen der Verhandlungen zwischen Parlament und Rat eine starke gesetzliche Grundlage geschaffen und kommen damit unseren internationalen Verpflichtungen nach. Denn noch vergangenes Jahr hat sich die Europäische Union auf der Weltbiodiversitätskonferenz in Montreal für ein ambitioniertes globales Abkommen zur Rettung der Artenvielfalt eingesetzt. Also jenes Abkommen, nach dem bis 2030 30 Prozent der Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt und 30 Prozent der zerstörten Ökosysteme renaturiert werden sollen.

Für die EU bedeutet das: Wir brauchen mehr Schutzgebiete, die bestehenden müssen besser vor umweltschädlichen Einflüssen geschützt werden und wir brauchen eine gesetzliche Grundlage zur Renaturierung. Das europäische Gesetz zur Renaturierung setzt hier an. Drei Punkte im Gesetz sind dafür besonders wichtig und ein großer Erfolg für den Klima- und Naturschutz:

  1. Die Klimaschützer namens Moore sind zurück im Gesetz. Die Mitgliedstaaten müssen Maßnahmen ergreifen, um Moore in Agrarökosystemen zu revitalisieren. Bis 2030 sollen 30 Prozent der entwässerten Moore renaturiert werden, wovon mindestens ein Viertel wiedervernässt sein muss. Das ist nicht optimal, aber es ist ein Anfang und ein Erfolg zugleich, denn vormals war im Europäischen Parlament gar keine Rede mehr von Mooren. Und noch wichtiger: Das Ganze soll ohne Enteignung geschehen, sondern mit klaren Anreizen. Gut für die Akzeptanz und die Artenvielfalt.
  2. Gleichzeitig braucht die Natur ihren Raum, um sich entfalten zu können: Bis 2030 müssen auf 20 Prozent der Land- und Meeresflächen der EU Renaturierungsmaßnahmen eingeleitet werden. Damit trägt Europa seine Verpflichtung zur Weltbiodiversitätskonferenz bei. Ein starkes Signal!
  3. Und ganz besonders wichtig: Natur kennt keine Grenzen. Die Renaturierungsmaßnahmen müssen nicht auf Natura 2000 Gebiete begrenzt werden. Dieser Schritt ist enorm wichtig, weil sich sonst das Gesetz selbst begrenzt und seine Kraft nicht entfalten kann.

Ja, dieses Gesetz ist ein Meilenstein, aber eben nur einer von mehreren. Denn das Gesetz allein wird das Artensterben nicht stoppen können, die Natur nicht retten. Die Europäische Union liefert damit lediglich das Fundament, jetzt liegt es vor allem an den Mitgliedstaaten, die Anforderungen umzusetzen. Zielverfehlungen können wir uns nicht leisten. Das Gesetz selbst ist schon ein Kompromiss und Kompromisse mit der Natur einzugehen, ist meist eine schlechte Idee, denn Ökologie kennt keine Moral, sondern nur Konsequenzen.

Wir brauchen ein Ökosystem aus Gesetzen

Gleichzeitig bringt es natürlich nichts, wenn wir Schutzgebiete schaffen, aber an anderen Stellen fleißig weiter verschmutzen. Denn wenn wir eines aus der Natur lernen, dann, dass kein einzelner Baum einen Wald ergibt. Wald ist ein Netzwerk aus vielen Tier- und Pflanzenarten, einer Vielfalt von Bakterien und Pilzen im Boden, und abiotischen Faktoren wie Regen, die noch dazu kommen. Und genau so müssen wir das neu geschaffene Gesetz zur Renaturierung verstehen.

Deshalb laufen in Brüssel parallel die Verhandlungen zur Reduzierung von Pestiziden bis 2030. Die Nutzung soll um 50 Prozent sinken oder besser gesagt: Sie muss. Die industrialisierte Landwirtschaft funktioniert nicht ohne Pestizide und ist unter anderem deshalb Hauptverursacher des Verlusts der biologischen Vielfalt.

Glyphosat ist einer von vielen Wirkstoffen, die hier zum Einsatz kommen. Als Totalherbizid vernichtet Glyphosat alle grünen Pflanzen, und als antibiotisch wirksame Substanz schädigt es das Bodenleben. Für Insekten bleibt dann nur noch eine Pestizidwüste übrig, und der Teufelskreis des Artensterbens nimmt seinen Lauf. Es ist also das Gebot der Stunde und im Sinne des Green Deals, den Natur- und Artenschutz ganzheitlich zu denken.

Es gibt noch Hürden zu überwinden

Wie das Ringen um das Gesetz zur Pestizidreduktion ausgeht, muss sich noch zeigen. Das Plenum des Europaparlaments hat die SUR heute abgelehnt, der Umweltrat der Mitgliedstaaten hat seine Position noch nicht abgestimmt.

Beim europäischen Renaturierungsgesetz muss der gefundene Kompromiss zwischen Parlament und Rat in beiden Institutionen noch finales grünes Licht bekommen. Was vormals eher Routine war, ist spätestens seit Volker Wissings (FDP) bekanntem Nein zum Verbrenner-Aus zum heiklen politischen Balanceakt geworden.

Im Europäischen Parlament geht der Kompromiss zum Renaturierungsgesetz nun in den zuständigen Umweltausschuss (ENVI), wo es noch einmal eng werden könnte. Würde das Gesetz dort abgelehnt, wäre das für den Artenschutz, die Natur und damit unsere Lebensgrundlagen eine Katastrophe. Denn in der Konsequenz würde das bedeuten, dass nicht nur die europäische Demokratie gelähmt ist, sondern dass das Artensterben unvermindert weitergeht.

Europas Green Deal wäre damit ausgehöhlt und die einmalige Chance für einen ökologischen Neuanfang wäre vertan. Die Hoffnung ruht also jetzt auf dem 29. November, wenn der Verhandlungsdurchbruch zwischen Parlament und Rat im Umweltausschuss auf dem Tisch liegt. Es wird eine Abstimmung über unsere Lebensgrundlage – nicht mehr und nicht weniger.

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