„Wir nehmen Glyphosat bis Ende 2023 vom Markt.“ Klarer kann eine Aussage im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung nicht sein. Doch stimmt sie so nicht mehr. Der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir enthielt sich am vergangenen Freitag bei der Abstimmung des Expertengremiums in Brüssel zur Abstimmung über die Glyphosat-Verlängerung – statt klar Nein zu sagen.
Hintergrund war eine von der Europäischen Kommission vorgelegte Empfehlung, die Zulassung des Totalherbizids Glyphosat um weitere zehn Jahre zuzulassen. Das von der Weltgesundheitsorganisation als „wahrscheinlich krebserregend für Menschen“ eingestufte Pestizid ist wohl der umstrittenste Wirkstoff in einer großen Frage: Welche Art der Landwirtschaft können wir uns noch leisten?
Die FDP führt die Grünen an der Nase herum
Die Frage kommt auf, weil der wichtigste Grund für das Artensterben vor unserer Haustür die intensive Landwirtschaft ist. Sie lässt unsere Felder und Wiesen verstummen, die Folgen für unsere Lebensmittelsicherheit und Wirtschaft sind enorm. Alleine die Bestäubung von Pflanzen durch Insekten ist für zwölf Prozent des durchschnittlichen Jahresgewinns des europäischen Agrarsektors verantwortlich. Anders gesagt sind die Lebewesen der Garant für unsere Lebensmittelsicherheit, den wir mit Glyphosat und anderen Wirkstoffen vollsprühen und vernichten.
Artensterben und Lebensmittelsicherheit sind zwei wichtige Gründe, warum die Ampel-Koalition im Koalitionsvertrag das Aus von Glyphosat verankert hat. Doch die jetzige Enthaltung des deutschen Landwirtschaftsministers Cem Özdemir droht wie ein Ja zum Totalherbizid Glyphosat zu wirken und ist damit ein Bruch mit dem Koalitionsvertrag.
Weil der Koalitionspartner FDP gegen ein Glyphosat-Verbot ist und Kanzler Scholz nicht einschreitet, enthält sich der Landwirtschaftsminister auf der europäischen Bühne. Das Problem daran: Wenn es zweimal keine qualifizierte Mehrheit aus Nein-Stimmen gegen den Wiederzulassungsantrag der Kommission gibt, darf diese am Ende alleine entscheiden. Dann wird sie Glyphosat möglicherweise weiter zugelassen.
Wie schon beim Verbrenner-Aus macht die FDP was sie will und führt die Grünen an der Nase herum. Ein Glyphosat-Verbot zumindest auf deutscher Ebene wird dadurch deutlich erschwert.
Stillstand im grünen Landwirtschaftsministerium
Noch viel wichtiger aber als die Deutung der Enthaltung Özdemirs ist die Bilanz seiner bisherigen Amtszeit. Die Entscheidung steht stellvertretend für seine bisherige Politik: schöne Medienbilder, aber wenig Wirkung. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung hat das Landwirtschaftsministerium 50 Prozent seiner Vorhaben nicht erfüllt.
Özdemir steht damit im großen Kontrast zu seinem grünen Parteikollegen, Wirtschaftsminister Robert Habeck, der im Eiltempo mit einer ganzen Kaskade von Gesetzen die erneuerbaren Energien aus dem Dämmerschlaf riss. Nur 22 Prozent der Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag sind bisher unerfüllt. Damit liefert er beeindruckend viel – und Özdemir?
Seine großen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag sind bislang alle unberührt geblieben: signifikante Reduzierung der Pestizide, Steigerung des Ökolandbaus oder die Orientierung des Tierbestands an der Fläche? Kein Fortschritt in zweieinhalb Jahren. Der Stillstand des Landwirtschaftsministeriums hat Folgen, gerade mit Blick auf das oben skizzierte fortschreitende Artensterben.
Beim Ökolandbau beispielsweise stagniert die Entwicklung bei elf Prozent, obwohl bis 2030 ganze 30 Prozent im Koalitionsvertrag versprochen sind. Jedes Jahr müssten nun drei Prozent dazukommen, um das Ziel noch zu erreichen. Wie Özdemir das erreichen will? Schweigen. Und an den eigentlichen Brocken traut sich Özdemir erst gar nicht ran: die Wiedervernässung von ehemaligen Moorstandorten.
Klimaheld Moor, Klimasünder Özdemir
Was nach einem Nischenthema klingt, hat wahre Sprengkraft. 95 Prozent der früheren Moorökosysteme in Deutschland sind nur noch daran erkennbar, wie ihr Boden beschaffen ist. Die entwässerten Moorstandorte sind mittlerweile für rund sieben Prozent der gesamten deutschen Treibhausgasemissionen verantwortlich – denn ohne Wasser zersetzt sich der Torf und wird zum Klimakiller. Anders gesagt sind Moore wahre Klimahelden: Weltweit bedecken Moore nur drei Prozent der Landfläche, binden aber etwa doppelt so viel Kohlenstoff wie die Biomasse aller Wälder der Erde zusammen.
Das deutsche Landwirtschaftsministerium und Cem Özdemir wissen um diese Daten. Sie wissen aber auch, dass das Thema jede Menge politischen Sprengstoff beinhaltet. In Deutschland müssen 1,2 Millionen Hektar ehemalige Moorflächen wiedervernässt werden. Doch angesichts des grassierenden Rechtsrucks in Deutschland und des lautstarken Bauernaufstands gegen Auflagen zur Nitratbelastung bei unseren niederländischen Nachbarn scheut sich Özdemir vor klaren Entscheidungen und verschleppt damit den Klimaschutz.
Karriere vor Klimaschutz?
Und damit sind wir beim Punkt, warum Özdemirs Stillstandministerium da ist, wo es ist: Alles deutet darauf hin, dass er Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden will. Starke Bilder in Moorlandschaften, Forschungsprojekte oder die Einberufung von folgenlosen Zukunftskommissionen sind da angenehmer als Ordnungsrecht und die großflächige Schaffung von neuen Bewirtschaftungsformen für wiedervernässte Flächen wie Paludikulturen oder Freiflächen-PV.
Protestierende Bäuerinnen und Bauern wie in den Niederlanden passen da nicht ins Bild. Özdemir duckt sich weg, wenn es klare Entscheidungen braucht. Nur: Eine Ministerbilanz, die zum großen Teil auf weißem Papier besteht, ist auch keine Empfehlung in den Stuttgarter Landtag. Er wird danach bemessen, ob er als Minister Probleme lösen kann und sein Ministerium die notwendige landwirtschaftliche Wende schafft, um das Klima zu schützen, das Artensterben in mehr Artenvielfalt umzudrehen und eine nachhaltige, gesunde Landwirtschaft zu etablieren.
Jetzt hat er noch die Chance zu zeigen, dass er genau das will – jenseits von schönen Medienauftritten und dem Sonnen in guten Umfragewerten.