Die Digitalisierung ist die stärkste technisch prägende Kraft in der zweiten Hälfte des 20. und mehr noch in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Informatik und Informationstechnik, Software und Hardware, oft etwas verkürzt Digitalisierung genannt, haben mit ihren vielfältigen Anwendungsgebieten unsere Welt dramatisch verändert. Wie schwer sich unsere Wirtschaft mit dem Thema Digitalisierung tut, zeigt die vor kurzem erschienene Expertise „Blinde Flecken in der Umsetzung von Industrie 4.0 identifizieren und verstehen“ vom Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0.
Die blinden Flecken beginnen bereits beim Begriff „Industrie 4.0“, der mit dem Hinweis auf die Bedeutung digitaler Technik für industrielle Entwicklung und Industrieproduktion weltweit Resonanz gefunden hat. Dieser Begriff – geboren aus der schlichten Erkenntnis, dass cyber-physische Systeme mit dem engen Zusammenspiel global vernetzter Software, Hardware und Mechanik die Zukunft entscheidend prägen werden – wurde zweifach einer fatalen Einengung unterworfen. Mehr als kurzsichtig ist die Einengung auf industrielle Produktion. Digitalisierung betrifft alle Anwendungsfelder, angefangen von der Medizin, über den Verkehr, bis hin zur Produktion, also zur klassischen Industrie.
Weg mit den Grenzen zwischen Anwendungsbereichen
Wesentlich ist das Niederreißen der Grenzen zwischen Anwendungsfeldern, die über Daten und Prozesse miteinander verbunden und vernetzt werden. Die Funktionalität der cyber-physischen Systeme nutzt wechselseitige Effekte. Es geht nicht nur um die digitale Anreicherung des „Shop Floors“ und des Produktionsvorgangs. Die Wucht der Digitalisierung äußert sich nicht in der Digitalisierung technischer Vorgänge, sondern in neuartigen Geschäftsmodellen. Dies erfordert allerdings ein ganz anderes Verständnis, ganz andere Einsichten.
Das führt direkt zu den blinden Flecken: Die Expertise moniert fehlende Digitalisierungsaffinität im Management bei mittleren und großen Unternehmen, veränderungsresistente Führungskräfte, einen mangelhaften Überblick und eine mangelhafte Einsicht in die Möglichkeiten der Digitalisierung sowie eine nicht vorhandene Strategieentwicklung. Daneben scheint die unzureichende digitale Infrastruktur wie fehlende redundante Netzabsicherung und zu geringe Bandbreite gerade in ländlichen Regionen die Digitalisierung eher zweitrangig.
Kritische Handlungsoptionen für Unternehmen, Politik und Verbände und andere Umsetzungsakteure liegen in folgenden sechs Bereichen:
- Etablierung einer ausgeprägten Digitalisierungskultur in den Unternehmen
- Sicherstellung einer digitalen Bildung und lebenslangen Weiterbildung in Sachen Digitalisierung
- Verantwortlichkeit auf oberster Managementebene für Fragen der Digitalisierung und der digitalen Strategie
- Neuartige Verfahren der Nutzenbewertung digitaler Lösungen und die Bereitschaft dort experimentell einzusteigen
- Ausrichtung der staatlichen Förderlandschaft auf digitale Umsetzungslösungen
- Schaffung eines gesamtwirtschaftlichen Innovationsumfeldes für die Digitalisierung
Diese entscheidenden Hemmnisse sind Ausdruck einer schmerzlich fehlenden deutschen Industrie- und Digitalisierungsstrategie, die unser Land in diesem Bereich schon jetzt fast um Jahrzehnte zurückgeworfen haben – ein hervorragendes Betätigungsfeld für die neue Ampelkoalition, um Rückstände und Versäumnisse aufzuholen, wenn sie hinreichend Kraft und Kompetenz aufbringt.
Wo sind die Wirtschaftsvordenker:innen?
In der Wirtschaft aber finden sich die blinden Flecken in den Köpfen, im Bewusstsein und den Sichtweisen führender Wirtschaftsmanager. Wo sind die Wirtschaftsvordenker, die überzeugende Ideen, Strategien, Geschäftsmodelle und Umsetzungen im Rahmen digitaler Potentiale entwickeln? Wo bleibt die Erkenntnis, dass Produkte von Morgen sich an digitalen Plattformen orientieren, ihre Funktionalität in weiten Teilen aus der Digitalisierung schöpfen und mit völlig neuen Funktionalitäten und Möglichkeiten den Markt penetrieren unter Einschluss einer viel engeren und dichteren Kommunikation zwischen Herstellern, OEMs und ihren Kund:innen, sodass ein dichter kreativer Austausch entsteht, der gleichzeitig der beständigen Weiterentwicklung unter Einbindung der Kunden dient und damit ein völlig neuartiges Biotop schafft für technische und kommerzielle Weiterentwicklungen?
Ein Beispiel dafür ist die Automobilindustrie: So wichtig die digitalisierte Produktion hier ist und so wesentlich damit Industrie 4.0 zur Effizienzverbesserung der Produktion beitragen kann, umso entscheidender ist es, die Digitalisierung unmittelbar für innovative Geschäftsmodelle und ganz andere Kund:innenzugänge einzusetzen. Betrachtet man hier die Märkte, so staunt man: Warum hat die deutsche Automobilindustrie nicht schon vor 20, 30 Jahren begonnen (ähnlich den Hyperscalern der Digitalisierung wie etwa Google) in einen direkten, digitalen Dialog mit ihren Kunden zu treten?
Deutsche Automobilbranche nutzt digitale Chancen nicht aus
Diese sitzen jeden Tag, oft über Stunden, in den Produkten deutscher Automobilhersteller. Warum wird hier der Kunde nicht eingebunden, nicht angesprochen? Warum werden hier nicht alle Möglichkeiten genutzt, mit neuen Dienstleistungen auf die Kund:innen zuzugehen, die Funktionalität der Fahrzeuge im Betrieb weiterzuentwickeln, den Kund:innen Angebote zu unterbreiten, um damit die Identifikation mit den Herstellern zu optimieren? Wo sind die neuen Geschäftsmodelle, die über das hinausgehen, was simples CarSharing bedeutet? Wo wird vernetzte, multimodale Mobilität digital umgesetzt und gelebt? Warum bietet man nicht umfassende Dienstleistungskonzepte für die Mobilität auf Basis digitaler Techniken an?
Das ist aber nur ein Beispiel unter vielen. Wie die Expertise zur Industrie 4.0 aufzeigt, fehlt es den deutschen Unternehmen, ebenso wie der Politik, an Strategie. Auf der Führungsebene fehlt die Leidenschaft und das tiefe Verständnis für die digitalen Möglichkeiten. Viel zu häufig ist die Führung viel zu wenig vertraut mit den Spezifika der Digitalisierung. Die großen Software-Abteilungen deutscher Automobilhersteller werden noch immer von Managern geführt, die selbst von mechanischen Weltbildern geprägt sind und kaum Zugang finden zu der Art und Weise, wie Softwaresysteme konzipiert, gebaut, entwickelt und gemanagt werden müssen.
Informatikausbildung muss neu aufgestellt werden
Wie in der Expertise angemerkt, wurzelt das natürlich nicht zuletzt im deutschen Bildungssystem. Trotz nachhaltiger Versuche ist die Digitalisierung unseres Bildungswesens, das Einbeziehen von neuartigen Möglichkeiten der Informatik als eines der bildungsrelevantesten Fächern unserer Zeit in Deutschland bislang weitgehend gescheitert. Wo sind die Politiker:innen, die sich dieser Mängel bewusst sind und die sich im Klaren sind, dass die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes daran hängt, entsprechende Expertise zu entwickeln?
Ein Teil der Kritik aber muss auch die Professor:innen aus der Informatik und Informationstechnik treffen. Viel zu lange schon ist die Ausbildung im Informatikbereich viel zu eng auf rein technische Fragestellungen ausgerichtet. Der sprichwörtliche „Nerd“ ist nicht das Ziel einer guten Informatikausbildung. Benötigt werden Informatiker:innen, die ihr Gebiet exzellent verstehen, aber gleichzeitig eine Vorstellung davon haben, wie ihre Technologie in der Lage ist, über neue Produkte und Dienstleistungen wirtschaftliche Erfolge zu erzielen und damit das Land in eine positive Richtung zu bewegen, vielleicht auch die Welt umzubauen und neu zu formen. Nach mehr als zwei Jahrzehnten mit nahezu Stillstand bleibt nur die Hoffnung, dass endlich ein Begreifen einsetzt, dass es ein Umdenken braucht, um die Digitalisierung in die richtige Richtung zu bewegen: Einschlägige Expertise, dedizierte Grundeinstellung, innovative wirtschaftliche Kultur basierend auf Vertrauen, um mit der Schnelligkeit und Durchsetzungskraft der digitalen Möglichkeiten in die Vollen zu gehen.
Manfred Broy ist Professor für Informatik, seit 2015 Emeritus of Excellence der TUM, Mitglied des Forschungsbeirats Industrie 4.0, Mitbegründer des „Center für Digital Technology and Management“ CDTM sowie des „Zentrums Digitalisierung Bayern“.