Eine gute Infrastruktur ist die Basis für eine positive Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Zum Erbe der alten Bundesregierung gehören jedoch veraltete Bahnen und Straßen sowie eine rückständige IT-Infrastruktur: Wir haben zu wenig Glasfaser, zu wenig Mobilfunk, zu wenige eigene international bedeutsame Unternehmen und zu wenige Innovationen. Erste Anzeichen für eine positive Entwicklung gab es in der letzten Legislaturperiode: Staat, Verwaltung und Unternehmen widmeten der Digitalisierung als tragende Säule für Zukunftsfähigkeit und Wohlstand deutlich mehr Aufmerksamkeit. Dies geschah nicht nur aufgrund der Pandemie. Schon vor Corona standen europäische Initiativen wie Gaia-X oder die deutsche mit dem sperrigen Namen „SPRIND Bundesagentur für Sprunginnovationen“ für eine Einsicht in den Nutzen und die Notwendigkeit von disruptiver Digitalisierung und einer modernen IT-Infrastruktur.
Als oberste Maxime hat sich der Begriff „digitale Souveränität“ etabliert. Er steht dafür, dass Anwendungen keinen digitalen Kill Switch oder illegale Datenabflussrohre für Regierungen und Unternehmen enthalten dürfen, um die Infrastruktur zu gefährden oder lahmzulegen – sei es aus Versehen oder mit Absicht. Wir wollen und müssen selbst entscheiden können, wer auf unsere privaten, geschäftskritischen oder hoheitlichen Daten zugreifen kann und darf. Dafür benötigen wir jedoch digitale Souveränität.
Was Microsoft und Google vorhaben, würde Gaia-X torpedieren
Jetzt geht es um zielgerichtete Investitionen und klare Entscheidungen. Politik und Gesellschaft stellen damit die Weichen für die Umsetzung von IT-Infrastrukturen. Doch sie entscheiden nicht nur über Technik, sondern über Zukunftschancen von Deutschland und Europa im Wettbewerb mit amerikanischen und asiatischen Mittel- und Großmächten – und exakt in diesem Kontext sind die Bestrebungen von Microsoft mit SAP und Google mit Telekom/T-Systems zu betrachten. Sie proklamieren, mit ihren Cloud-Angeboten die Balance zwischen US-Technologien und -Unternehmen und der Datenhoheit ihrer Kunden zu erreichen. Dafür erhalte in der sogenannten „souveränen Cloud“ von Google und T-Systems beispielsweise der deutsche Part die Kontrolle über den physischen und digitalen Zugang und Zugriff in von den anderen Google-Angeboten abgetrennten neuen Rechenzentren. Der renommierte Gartner-Analyst René Büst stellt „in Frage, ob das Angebot volle digitale Souveränität bietet“ und spricht in diesem Zusammenhang von „Souveränität light“.
Was SAP und T-Systems vorhaben, würde das der Souveränität dienende Gaia-X-Projekt torpedieren. Wenn sich Regierung und Behörden einseitig für eine Staatscloud auf Basis von Google oder Microsoft entschieden, käme das einer Zementierung bestehender Verhältnisse auf Jahrzehnte gleich, die Innovationen und eine neu entstehende Digitalwirtschaft im Keime ersticken würde.
Aus unserer Sicht ist es der falsche Weg, Technologien einfach nur bei den anderen zu bestellen, sich alles liefern zu lassen und als Pförtner nur ein paar „Hilfsarbeiten“ zu übernehmen – kurz: Die Wertschöpfung von IT-Infrastruktur abzugeben. Wir würden zu wenig eigene Expertise sammeln und zu wenige Anreize schaffen, in die eigene Industrie zu investieren. Rafael Laguna de la Vera zog dazu jüngst einen durchaus passenden Vergleich: Wenn man eine Staatscloud einfach nur einkaufe, wäre das so, schreibt er, „als hätte der amerikanische Präsident nach dem Sputnik-Schock“, als die Russen ohne Vorwarnung den ersten Satelliten ins All schossen, „einen Sputnik bei Chruschtschow bestellt, statt DARPA und NASA zu gründen.“
Wir müssen unsere IT-Infrastruktur demokratisieren
Ohne Google damit als Reich des Bösen zu bezeichnen, wir nutzen als Managed-Kubernetes-Anbieter selbst Open-Source-Technologien, die Google maßgeblich entwickelt hat. Aus dieser Perspektive ergeben sich dringende Fragen an die nächste Bundesregierung und die EU: Welche Zukunft soll Gaia-X haben? Sind Investitionen von wenigen dutzend oder hundert Millionen wirklich genug? Betrachtet man die europäischen Investitionen in Gaia-X von 160 Millionen Euro verteilt auf 16 Projekte wird schnell deutlich, dass wir hier unbedingt nachlegen sollten. Die börsengelisteten Google, Microsoft und Amazon können die Milliardeninvestitionen in Ihre Clouds aus völlig anderen Bereichen beziehen. Diese Summen können mittelständische europäische Unternehmen nicht aufbringen – aber die Chancen auf ein Wachstum der Digitalwirtschaft und die Demokratisierung von IT-Infrastruktur sollte sich Europa und Deutschland nicht entgehen lassen.
Bisher kennen wir nur das Sondierungspapier der verhandelnden Parteien für eine Ampel-Koalition. Es lässt noch zu viel offen, um grundlegend optimistisch zu sein. Aber die Hoffnung besteht, denn immerhin wird der Digitalisierung ein hoher Stellenwert zugesprochen. Doch wie geht es konkret weiter, für welchen Weg wird sich die Politik entscheiden? Wird die nächste Regierung willens sein zu klotzen, statt wie bisher nur zu kleckern? Wird sie sich für die Förderung (ausdrücklich nicht Subventionen) nachhaltiger Innovationen und den Aufbau europäischer Cloud-Kompetenzen statt zu freundlichen Kellner-Diensten für globale Hyperscaler entscheiden? Die Beantwortung dieser Fragen sollte nicht zu lange dauern, sonst wird das Ziel Digitaler Souveränität auf ewig ein Wunschtraum bleiben.
Marc Korthaus ist Gründer und CEO des Berliner Cloud Providers Syseleven.
Der Pro-Standpunkt zur staatlichen Nutzung der Cloudangebote von Hyperscalern von Frank Strecker findet sich hier.