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Digitalisierung & KI

Standpunkte Das neue EU-Parlament steht vor einer Existenzkrise

Nick Clegg, President Global Affairs bei Meta
Nick Clegg, President Global Affairs bei Meta Foto: Meta

Die EU ist zwar weltweiter Leader bei der Regulierung von digitalen Technologien. Doch bei deren Entwicklung und Einsatz fällt man immer weiter zurück, findet Nick Clegg von Meta. Im Standpunkt erläutert er, warum Europa seiner Ansicht nach auf dem wirtschaftlichen Abstellgleis steht und wie es seinen Optimismus zurückgewinnen kann.

von Nick Clegg

veröffentlicht am 28.06.2024

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Die Menschen in Europa haben gewählt. Ein neues Parlament wurde aufgestellt. Die Anwärter:innen auf das Präsidentenamt der Europäischen Kommission und die neuen Kommissar:innen wetteifern um ihre Positionen. Es könnten einige bekannte Gesichter zurückkommen und einige neue hoffen darauf, sich einen Namen machen zu können. Aber trotz alledem geht es in Brüssel nicht um das normale Tagesgeschäft.

Unabhängig davon, wer am Ende einen der begehrten Plätze bekommt – die Aufgaben, die damit einhergehen, sind von existenzieller Bedeutung. Vor 30 Jahren hat Europa etwa ein Viertel des globalen Bruttoinlandsproduktes ausgemacht – doch wir fallen zurück. Das BIP pro Kopf ist in der EU nur halb so hoch wie in den USA – wir reden von etwa 40.000 Dollar pro Europäer:in gegenüber 80.000 Dollar pro Amerikaner:in. Keines der weltweiten Top 10 Unternehmen stammt aus Europa. Keines der ein Dutzend wertvollsten Unicorns – Start-ups mit einem Wert von einer Milliarde Dollar oder mehr – ist europäisch. Von den Top 50 Unternehmen in Europa wurde keines innerhalb der letzten 30 Jahre gegründet.

Die EU ist nur beim Regulieren globaler Vorreiter

Unsere Unternehmen wachsen langsamer, verzeichnen niedrigere Renditen und bleiben bei Forschung und Entwicklung hinter ihren Konkurrenten zurück – selbst in Industriebereichen, die früher als Stärken Europas galten, wie Automobil und Produktion. Nur eine der Top 10 Marken für Elektroautos in den USA kam letztes Jahr aus Europa. In China sind viermal mehr Halbleiterwerke geplant als in Europa.

Die traurige Wahrheit ist, dass Europa keinen fruchtbaren Boden mehr für Innovation und Unternehmen von Weltklasse bietet. Olaf Scholz und Emmanuel Macron haben es auf den Punkt gebracht: „Unser Europa ist sterblich.“ Sie sagen, Europa würde eine Zeitenwende durchmachen. Doch wohin es sich wendet, bleibt abzuwarten. Das Zeitalter der generativen KI ist eine Chance, die Geschichte zu verändern. Diese leistungsstarke Technologie könnte uns einen gewaltigen Schub geben, den wir gerade dringend benötigen. Goldman Sachs geht davon aus, dass generative KI das globale BIP im nächsten Jahrzehnt um sieben Prozent steigern könnte.

Europa ist Vorreiter bei der Regulierung von Technologie – das zeigen die Datenschutzgrundverordnung, der Digital Markets Act, der Digital Services Act und der AI Act. Aber leider nicht beim Entwickeln und Einsetzen dieser Technologien. Die Komplexität der EU-Regelungen und der Flickenteppich aus Gesetzen in den Mitgliedsstaaten lässt Unternehmen oft zögern, hier neue Produkte einzuführen. Meta und Google haben die Einführung ihrer KI-Assistenten hier verschoben und selbst europäische Stars wie Volkswagen verlagern die Entwicklung und Einführung ihrer KI-Produkte zunehmend in die USA. Durch die schnelle Anwendung von KI in den USA und China wird der Abstand zwischen diesen beiden Großmächten und der stagnierenden EU immer größer.

Der Vorteil des Binnenmarktes wird nicht genutzt

Wie kann Europa seine Geschichte ändern? Es benötigt sehr viel Geld und Energie, um die Infrastruktur für grundlegende KI-Modelle aufzubauen. Doch die Nutzung von Open-Source-KI-Modellen gibt europäischen Unternehmen, Start-ups und Forschenden Zugang zu Tools, an die sie andernfalls nicht rankommen würden. Die Universitäten in Europa bringen Top-Talente hervor und uns stehen massive Kapazitäten für Forschung und Entwicklung zur Verfügung. Wir könnten zu einem globalen Spitzenreiter in der Anwendungsebene von KI werden, indem wir Apps und Dienste entwickeln, mit denen die Menschen diese leistungsstarke neue Technologie nutzen können.

Europa spielt seine größte Stärke nicht aus: den europäischen Binnenmarkt mit 450 Millionen Konsument:innen. Europäische Führungskräfte haben immer wieder verkündet, dass es eines ihrer Hauptziele sei, dass Europa in Tech-Fragen mit den USA und China konkurriert. Sie wünschen sich, dass auf europäischem Boden das nächste Silicon Valley entsteht. Ich teile diesen Wunsch. Als stolzer Europäer würde ich gerne sehen, wie bei uns das nächste Meta, Alibaba oder Google entsteht. Und wir haben alle nötigen Bauteile zur Hand: einen großen Markt, exzellente Universitäten, Spitzentalente und eine Kultur des Unternehmertums, der Experimentierfreude und der Innovation.

Doch trotz des regulatorischen Aktivismus – seit 2019 wurden ganze 77 neue EU-Vorschriften für den digitalen Bereich verabschiedet – war es unser Unvermögen, den digitalen Binnenmarkt zu verwirklichen, das uns ausgebremst hat. Es spricht für sich, dass ein Start-up in Amsterdam sich für die Lieferung von Waren immer noch mit 27 verschiedenen Gesetzen zum geistigen Eigentum, diversen Regelungen für die Lizenzierung von Inhalten, Datenschutzbehörden und anderen Hindernissen auseinandersetzen muss.

Europa muss seinen Optimismus zurückgewinnen

Zu meinen Zeiten als junger Mann in den Neunzigern in Brüssel, war der Binnenmarkt ein Grund für großen Optimismus. Ich war am College of Europe – wo ich auch meine Frau Miriam kennengelernt habe – und in der Hochphase der Globalisierung und der europäischen Integration wurde ich Beamter bei der Kommission. Die Berliner Mauer war gefallen, die Einheitliche Europäische Akte auf den Weg gebracht, der Vertrag von Maastricht frisch gedruckt und die Welthandelsorganisation hatte ihre Arbeit aufgenommen. Ende der Neunziger und Anfang der 2000er, als ich Mitglied des Europäischen Parlaments war, hat es sich angefühlt, als würde die Welt enger zusammenrücken. Und die EU – dieses bemerkenswerte Experiment in Sachen Kooperation, Offenheit und zahlenmäßiger Stärke – war ein Symbol für diesen Optimismus.

Es fühlt sich an, als wäre das schon ewig her. Die Finanzkrise 2008 hat der Globalisierung den Rücken gebrochen. Europa wurde von einer Wolke der Introspektion überschattet. Angesichts der großen Defizite und der Gegenbewegungen von links und rechts konzentrierte sich die Regierungen mehr auf die nationale Souveränität statt auf gemeinsame Bestrebungen. Kein Land hat dem Projekt Europa deutlicher den Rücken gekehrt als mein eigenes, das Vereinigte Königreich. Die Begründer des Binnenmarktes – allen voran der Brite Lord Cockfield – wären entsetzt, wenn sie sehen würden, dass dieser nicht den Wohlstand bringt, den Europa braucht. Stattdessen zeigt die EU sich zunehmend uneins und fragmentiert, Regulator:innen und Entscheidungsträger:innen drängen in verschiedene Richtungen. Es ist wenig verwunderlich, dass so viele – insbesondere junge – Menschen aufstrebende Populisten unterstützen, die versprechen, den Status Quo zu ändern.

Ich glaube daran, dass wir uns den Optimismus zurückholen können. Unsere neuen Parlamentarier:innen und Kommissar:innen stehen vor der großen Aufgabe, den wirtschaftlichen Abstieg Europas abzuwenden. Die Lösung ist einfacher, als es scheint: Die Größe entscheidet. Der Binnenmarkt ist Europas größte Stärke, doch er ist noch nicht vollendet. Bringt die Aufgabe zum Abschluss. Vermeidet fragmentierte Regulierungen. Entscheidet euch für einen offenen Ansatz für die KI-Entwicklung. Dann werden die europäische Kreativität, Innovationskraft und Unternehmergeist den Optimismus zurückbringen.

Sir Nick Clegg ist President Global Affairs bei Meta. Er kam 2018 zum damals noch als Facebook firmierenden Unternehmen – nach fast zwei Jahrzehnten in der europäischen und britischen Politik, unter anderem als Abgeordneter im Europaparlament und als stellvertretender Premierminister des Vereinigten Königreichs.

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