Die Macht großer Digitalkonzerne und damit einhergehende Probleme sind offensichtlicher denn je. Die Frage ist nicht länger, ob es zu neuen Enthüllungen von Whistleblowerinnen wie Frances Haugen oder weltweiten Systemausfällen großer Plattformen kommt, sondern wann. Weltweit versuchen Regierungen, die Lage durch neue Regeln in den Griff zu bekommen. In Brüssel schreitet die Kommission mit Digitalgesetzen wie dem Digital Markets Act und dem Digital Services Act voran. In Deutschland fordert Kartellamtschef Andreas Mundt, die großen Plattformen stärker zu regulieren. Gleichzeitig bauen die großen Plattformen der Internetindustrie ihre gigantische wirtschaftliche Dominanz weiter aus. Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft machen gemeinsam fast ein Viertel des Werts aller Aktien im S&P-500-Index aus. Aber nicht nur das: Sie machen das Internet unsicherer, instabiler und wertloser für Unternehmen und unsere Gesellschaft als Ganzes.
Die Kritik an der Monopolstellung dieser Plattformen nimmt zu – und das zurecht. Anders als die aktuelle Emsigkeit der Gesetzgeber es nahelegt, ist die Forderung, das Internet unabhängiger von großen Plattformen zu machen, aber nicht neu. Die Probleme des plattformabhängigen Internets, wie wir es heute kennen, sind auch nicht überraschend: Das heutige Internet ist von Grund auf kaputt. Es zwingt uns praktisch dazu, Institutionen zu vertrauen, die fehlerhaft sind.
Das Gegenmodell zum Status quo, dem Web 2.0, heißt Web3. Dezentrale Web3-Technologien ermöglichen es, aus der Abhängigkeit von großen Plattformen auszubrechen und die Souveränität über persönliche Daten zurückzugewinnen. Die Funktionsweise des Web3 ist einfach: Es handelt sich um ein dezentrales Online-Ökosystem, das von Menschen für Menschen entwickelt wird. Durch den Einsatz von Blockchain-Technologie werden Peer-to-Peer-Netzwerke geschaffen, die es allen Nutzerinnen und Nutzern ermöglichen, Dienstleistungen weltweit anzubieten. Den Möglichkeiten sind dabei praktisch keine Grenzen gesetzt, da jegliche Online-Interaktion heutzutage im Prinzip eine Datenübertragung ist, die sich auch auf einer Blockchain abbilden ließe. Von Geldtransfers bis hin zu dezentralen Social-Media-Plattformen werden Web3-Anwendungen oberflächlich betrachtet heute bekannten Programmen ähneln. Darunter liegen jedoch wesentliche Unterschiede. Das Web3 wird die Zugangsbarrieren zu Bereichen senken, die derzeit großen Unternehmen vorbehalten sind.
Auf dem Weg zu integrierten Blockchains
Ein wichtiges technologisches Hindernis hierzu wurde erst kürzlich ausgeräumt: Bislang waren verschiedene Blockchains aufgrund begrenzter Konnektivität und Interoperabilität weitgehend voneinander isoliert. Dank der Einführung so genannter „Parachains“ ist es nun möglich, wesentlich umfassendere, integrierte Blockchains zu entwickeln – eine wichtige Voraussetzung für das Web3-Zeitalter.
Dieser rapide technologische Fortschritt dezentraler Internettechnologien zieht zunehmend Risikokapitalinvestoren an. 2021 stiegen die weltweiten Investitionen in Blockchain-Technologie gegenüber dem Vorjahr um 713 Prozent. Der Einstieg etablierter Investoren hat Kritik hervorgerufen, dass Web3 nur eine weitere zentralisierte Organisationsform des Internets sei. Das ist schlichtweg falsch, denn Web3 ist weit mehr als eine einzelne Technologie. Es handelt sich um eine breite Bewegung, die aus mehreren unabhängigen Teams, Projekten, Einzelpersonen und Organisationen besteht. Geeint werden sie durch den Glauben an Peer-to-Peer-Technologie und ihre Möglichkeiten für die Gesellschaft – Möglichkeiten, die es im plattformdominierten Internet nicht gibt.
Die meisten Menschen, die zum ersten Mal von Web3 hören, unterstützen dessen Grundidee. Nur wenige können sich allerdings vorstellen, wie eine Welt ohne das Internet, wie wir es heute kennen, aussehen könnte. Dabei geht es bei Web3 nicht darum, das Internet von Grund auf neu zu erfinden. Vielmehr soll unser derzeitiges System kritisch hinterfragt und Risiken identifiziert werden. Von diesen Risiken ausgehend sollen am Menschen orientierte Lösungen für unsere Bedürfnisse entwickelt werden, die das heutige Internet um wichtige Funktionen ergänzen, es aber nicht ersetzen.
Zu viele Daten liegen in zu wenigen Händen
Die Risiken sind sowohl wirtschaftlicher und persönlicher als auch politischer Natur und beeinträchtigen unsere Gesellschaft nachhaltig. Laut einer Bitkom-Studie ist fast die gesamte deutsche Wirtschaft von Cyberangriffen betroffen, die jährlich mehr als 220 Milliarden Euro Schaden verursachen. Hinter dieser unglaublichen Summe steckt die Abhängigkeit der gesamten Wirtschaft von zentralen Knotenpunkten des Internets. Selbst kleinere Ausfälle bei zentralen Plattformen können schnell zu Problemen globalen Ausmaßes und entsprechenden Kosten führen. Auf persönlicher Ebene beobachten wir, wie das rentable Geschäft mit Nutzerdaten das Ende der Privatsphäre einläutet. Politisch beeinflussen Algorithmen, die extreme Meinungen bevorzugen, den Diskurs, ganze Wahlkampagnen und damit möglicherweise auch deren Ergebnisse.
Was wir oft vergessen: Dieser datengetriebene gesellschaftliche Wandel steht erst am Anfang. Die Bedrohung durch eine weitere Datenzentralisierung könnte noch größer werden, sobald KI-Technologien ausgereift sind. Sich selbst überlassen, könnten globale, zentralisierte Plattformen in Kombination mit Fortschritten in der KI ernsthafte Schäden für die Gesellschaft verursachen, die wir heute noch nicht einmal abschätzen können.
Angesichts dieser Herausforderungen wird deutlich, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem zu viele Daten und damit Macht in den Händen weniger Online-Akteure liegen. Dies widerspricht grundlegend den Prinzipien der Demokratie und persönlicher Autonomie. Mit Hilfe der Blockchain-Technologie lässt sich stattdessen ein Internet aufbauen, das auf Offenheit, Authentizität und Transparenz beruht. In einem dezentralen Ökosystem haben die Nutzerinnen und Nutzer überprüfbare Garantien darüber, welche Informationen sie erhalten, welche Informationen sie weitergeben und was sie im Gegenzug dafür erhalten.
Deswegen brauchen wir ein digitales Ökosystem, das sich nicht nur auf wenige mächtige Plattformen stützt, sondern Einzelnen hilft, sich sicher und unter Kontrolle ihrer eigenen Beiträge und Daten im Internet zu entfalten. Innovatorinnen und Innovatoren sollen Lösungen entwickeln können, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen, anstatt, wie etwa das derzeit gehypte Metaverse, den Datenhunger von Monopolisten zu stillen. Das Ergebnis könnte ein Internet sein, das niemandem gehört – aber jedem die Möglichkeit gibt, sich daran zu beteiligen.
Web3 ist eine Vision, bei deren Umsetzung wir gute Fortschritte machen. Trotzdem ist klar: Der vor uns liegende Weg ist lang und der Prozess wird weder schnell noch einfach. Umso mehr müssen wir es versuchen. Das sind wir uns schuldig.
Bertrand Perez ist COO der Web3 Foundation, die dezentrale Protokolle, wie das Multichain-Projekt Polkadot vorantreibt. Davor war er in gleicher Position für die Diem Association und das von Facebook initierte Kryptowährungsprojekt Libra tätig. Perez hat zudem mehr als sieben Jahre für Paypal gearbeitet.