In der gesamten demokratischen Welt haben wir mit einer wachsenden Bedrohung durch digitale Desinformation zu kämpfen. Unsere Gesellschaften sind immer schlechter informiert, die Spaltung nimmt zu. Wilde Verschwörungserzählungen, Anstiftung zur Gewalt und eine Kultur der Provokation und des Konflikts werden auf den großen digitalen Medienkanälen zum Alltag. So wird Hass normalisiert, die Politik polarisiert und Gemeinschaften zerbrechen an einem unterschiedlichen Verständnis von Realität.
Immer weniger Menschen trauen der Wissenschaft und Forschung, sie lehnen die Fakten der Klimakrise ab oder zweifeln beispielsweise Nachrichten zum Ukraine-Krieg an. Einige stellen die Legitimität freier und fairer Wahlen in Frage. All diese Positionen werden durch digitale Medien verstärkt und als ernsthafte Alternative zu den Meinungen der „Eliten“ und des „Mainstreams“ dargestellt. Politische Gegner werden eher als Feinde, nicht mehr als Mitmenschen mit anderer Meinung angesehen. In den USA und auch in Europa betrachten immer mehr Menschen Gewalt als akzeptable Lösung für soziale Probleme.
Dies ist kein natürliches Phänomen. Digitale Medien sind kein Abbild dessen, was der Durchschnitt glaubt. Im Gegenteil: Extreme Ansichten werden verstärkt – Austausch, konstruktive Diskussion und Abwägungen werden aus der digitalen Debatte gedrängt. Wenn ich auf den Medien, die ich konsumiere, hauptsächlich radikale Positionen gezeigt bekomme, ist es nicht verwunderlich, wenn ich sie mit der Zeit als normal annehme.
Plattformen als Informationsquelle
Diese Verzerrung der Realität ist eine direkte Folge des Geschäftsmodells der größten Technologieplattformen - insbesondere Google, Meta, Twitter und Tiktok. Immer mehr Menschen ziehen ihre Informationen vor allem von diesen Plattformen, aus einer Mischung aus ‚klassischen‘ und ‚alternativen‘ Quellen. Auch wenn wir letzendlich selbst klicken, sind es die Plattformen, die vorab auswählen, was wir wann zu sehen bekommen. Die Platformen sind wie ein Fernseher ohne Fernbedienung: Sie füllen die einzelnen Kanäle nicht mit Inhalt, aber sie entscheiden, welche Kanäle wir anschauen können.
Diese Entscheidung fällen sie auf Grundlage beispielloser kommerzieller Überwachung: Mit unserem Online-Verhalten berechnen sie, welche Inhalte Milliarden an Menschen am längsten an die Bildschirme fesseln, denn sie verkaufen unsere Aufmerksamkeit an Werbetreibende. Wut, Desinformation und Verschwörungserzählungen faszinieren Menschen – für die großen Plattformbetreiber sind sie deshalb besonders profitabel.
Die Unternehmen haben einige bescheidene Maßnahmen ergriffen, um die schlimmsten Schäden, die ihre Produkte verursachen, einzudämmen. Aber die Plattformbetreiber allein mit dem Schutz unserer Demokratie zu beauftragen, ist ungefähr so, als würden wir einen Tabak-Lobbyisten zum Gesundheitsminister machen.
Das Geschäftsmodell von Meta, Twitter und Google fördert nicht nur konspirative Weltanschauungen, sondern gefährdet auch den traditionellen Journalismus. In Google und Meta konzentriert sich fast die gesamte Macht auf dem digitalen Werbemarkt. Sie saugen einen Löwenanteil der Einnahmen ab, mit denen früher Qualitätsjournalismus finanziert wurde.
Russische Propaganda wird verstärkt
Dieses Geschäft zersetzt nicht nur schrittweise öffentliche Diskursräume, sondern macht uns extrem anfällig für organisierte Desinformationskampagnen aus dem Aus- oder Inland – Kampagnen, deren einziges Ziel es ist, Demokratien zu Fall zu bringen. Im Ukraine-Krieg hat sich gezeigt, dass Russland immer aggressiver vorgeht. Der Kreml und sein Propagandaapparat versuchen gar nicht mehr, zu verbergen, was für ein zynisches Spiel sie auf den digitalen Plattformen treiben und dennoch erfahren sie selten Konsequenzen.
Während der Kreml Ängste vor einem Nuklearkrieg zur Waffe macht, sind US-Unternehmen wie Meta, YouTube und Twitter weiterhin als Verstärker für russische Desinformationskampagnen tätig. Als Amerikaner kann ich das besonders schwer nachvollziehen. Stellen Sie sich vor, CNN würde dem Kreml täglich zwei Stunden Sendezeit geben, in denen er sagen kann, was er will – das wäre absurd. Aber wäre das wirklich so viel anders, als die kumulative Wirkung von Hunderten Social-Media-Konten? Monatelang verbreiteten der Kreml und seine Propaganda-Accounts hier in Deutschland die Lüge, dass der Westen Russland keine andere Wahl gelassen habe, als die Ukraine anzugreifen. Inzwischen glauben 40 Prozent der Deutschen diese Lüge ganz oder teilweise.
Es gibt keine einfache Lösung für dieses teuflische Problem. Zunächst müssen wir das Geschäftsmodell der großen Tech-Konzerne als Bedrohung anerkennen. Extreme, dominante Stimmen werden systematisch verstärkt, schutzbedürftige Gruppen aus demokratischen Räumen verdrängt. Wir müssen unseren Werten der freien Meinungsäußerung treu bleiben: Statt blindwütig zu löschen, müssen wir Regeln und Standards definieren, die Tech-Konzerne dazu zwingen, die öffentliche Sicherheit und die Grundrechte auf Privatsphäre und Meinungsfreiheit gleichermaßen zu schützen. Als marktbeherrschende Informationsplattformen haben diese Unternehmen eine Verantwortung für die öffentliche Gesundheit, das Kindeswohl oder die Integrität von Wahlen.
Chancen der Regulierung
Deutschland hat bei der Regulierung von Plattformen eine Vorreiterrolle eingenommen. Seine führenden Vertreter spielten in Brüssel eine Schlüsselrolle bei der Ausarbeitung des Digital Services Acts (DSA). Diese bahnbrechende Gesetzgebung birgt das Potenzial, das Verhältnis zwischen Demokratie und Big Tech neu zu gestalten.
Auch in Amerika beobachten wir genau, ob der DSA eine positive Wirkung entfalten kann. Europa sollte sich jetzt ganz auf die Durchsetzung des Gesetzes konzentrieren. Es wäre tragisch, wenn die neuen Regeln für Tech-Konzerne nicht zum Wirken kämen, weil der politische Wille fehlt, die Regulierungsbehörden mit den nötigen Mitteln auszustatten. Das Signal an die Unternehmen wäre: Ihr könnt weitermachen wie bisher.
Nicht weniger als die Zukunft demokratischer Gesellschaften steht auf dem Spiel. Deshalb sollte Deutschland Verantwortung übernehmen. Es sollte institutionelle Grenzen überwinden und die Zusammenarbeit von Aufsichtsbehörden, Forschern und zivilgesellschaftlichen Gruppen ermöglichen – denn nur mit geballter Expertise und gesellschaftlichem Willen sich neue, gesündere digitale Räume zu schaffen.
Als Executive Director ist Ben Scott für die strategische Ausrichtung von Reset verantwortlich. Er koordiniert die Arbeit in den Bereichen Politik, Technologie und bürgerschaftliches Engagement und berät bei der Entwicklung von Strategien und der Interessenvertretung. Zuvor leitete er die Stiftung Neue Verantwortung (SNV) in Berlin.