Die gestern verabschiedete Digitalstrategieder Bundesregierung fasst – wie viele andere jüngere Papiere – zahlreiche relevante Themen ins Auge, vom Gesundheits- über den Mobilitätsbereich hin zum E-Government. Sie identifiziert Schlüsseltechnologien und gibt teilweise sogar konkret „erlebbare“ Use Cases vor, die beschreiben, wie sich die Digitalisierung in unser aller Alltag anfühlen könnte. Kurzum: Sie erfüllt durchaus ihre Rolle als Beschreibung einer grundsätzlichen Verhaltensweise, die auf die Erreichung eines definierten Ziels ausgerichtet ist – also einer Strategie.
Die Kritik an den Digital-, Zukunfts- und weiteren Strategien der Regierung ist ungeachtet dessen groß. So wird die fehlende Detailtiefe bemängelt, bestimmte Technologien würden nicht erwähnt oder die Finanzierungsfragen seien nicht über die nächsten Jahre bis ins Detail geklärt.
Digitalisierung ist nicht nur staatliche Aufgabe
Als konstruktiv-kritische Begleitpersonen der politischen Strategiepapiere und -prozesse, zu denen wir uns bei Datev zählen, erzeugen wir mit unserer Kritik eine vielfach nicht erfüllbare Erwartungshaltung. Die Hoffnung auf Sicherheit stiftende Komplexitätsreduktion ist zwar nachvollziehbar, aber unerreichbar. Das liegt vor allem daran, dass wir uns alle vor einer realistischen Einschätzung des Status Quo scheuen. Es ist eben nicht nur eine staatliche Aufgabe, die Digitalisierung nutzbar zu machen.
Wollte man die Digitalstrategie mit einer schonungslosen Bestandsaufnahme beginnen, dann müsste diese vermutlich folgenden Zungenschlag bekommen: Deutschland liegt bei der Digitalisierung der Verwaltung, aber auch in großen Teilen der Wirtschaft, zehn Jahre hinter einigen europäischen Partnern – in manchen Fällen noch ein paar Jahre mehr. In weiten Teilen des Landes sind Personen in Entscheidungsfunktionen weiterhin zu rücksichtsvoll, um die für eine erfolgreiche Digitalisierung notwendigen strukturellen Reformen einzuleiten und durch unbequeme Priorisierungen und Entscheidungen zu stützen.
Strategie sollte mutige Zukunftsbilder zeichnen
Eine derartig beginnende Strategie aber würde zunächst eine Diskussion starten, wer welche Verantwortung trägt für diesen Zustand. Nur um dann zu Maßnahmen und Zielbildern zu führen, die doch recht banal daherkämen: Lasst uns doch die Verwaltung technologisch so aufstellen wie in Skandinavien im Jahr 2022. Das mag zwar wünschenswert sein, entspricht allerdings eben nicht dem natürlichen Anspruch einer Strategie als „Blick in die Glaskugel“. Wenn wir eine Strategie wollen, die mutige Zukunftsbilder zeichnet, dann wird sie also immer etwas unkonkret bleiben müssen. Wenn wir eine wollen, die den Status Quo aufnimmt und diesen ändern will, müssen wir mit den Konsequenzen in Form einer harten Bestandsaufnahme und nachfolgenden Priorisierungen leben.
Priorisierungen führen zwangsläufig auch zu Enttäuschungen. Wer sich für etwas entscheidet, entscheidet sich auch gegen viele andere Optionen. Fordern wir Priorisierung, erwarten wir natürlich alle implizit das Gleiche: Dass die eigene Technologie und das eigene Projekt oberste Priorität haben. Scheinbar ist in der Gesellschaft – aber auch gerade in der Wirtschaft – der Mut, unter Risiken Entscheidungen zu treffen und diese im Sinne des Digitalisierungsprozesses notfalls zu verteidigen, nicht so groß wie wir es von uns erwarten.
Entscheidungen müssen Entscheidungen bleiben
Daher erwarten wir von der Politik und ihren Strategien, dass sie uns klar sagen mögen, welche Technologien sich durchsetzen, wo sie diese zu fördern gedenkt und wann sie wo eingesetzt werden. Wir können aber nicht von Politik und Verwaltung verlangen, zukünftige unternehmerische Entscheidungen zu ersetzen oder deren Risiko so zu minimieren, dass Entscheidungen letztlich keine solchen mehr sind.
Politik kann – und soll – nicht vollends entscheiden, wie die Digitalisierung nutzenstiftend eingesetzt werden kann. Sie kann Regelungsbedarfe erkennen, Regeln setzen, infrastrukturelle Grundlagen schaffen und Ziele für diejenigen Bereiche formulieren, in denen sie zur Sicherstellung der Daseinsvorsorge eine starke Rolle spielt – wie in Verwaltung, Forschungsförderung oder Gesundheit. Eine Strategie in einem komplexen System wie unserer föderalen sozialen Marktwirtschaft, mit all den verschiedenen Interessen und Meinungen, wird nicht leisten können, uns den Entscheidungs- und Priorisierungsbedarf in unseren Bereichen abzunehmen. Im weitaus größten Teil liegt eine erfolgreiche Digitalisierung eben nicht am Bundesministerium für Digitales und Verkehr oder der Regierung, sondern an uns: Gehen wir’s an.
Jens Bizan arbeitet als Senior Policy Advisor im Hauptstadtbüro von Datev.