Auf kommunaler Ebene ist Bürgerbeteiligung mittlerweile in vielen Staaten fester Bestandteil der Demokratie. So wurde beispielsweise in Frankreich mit dem „Code d'urbanisme“ Beteiligung bei kommunalen Bauvorhaben fest verankert. Um die Auflagen zu erfüllen, müssen die Kommunen geeignete Beteiligungsformate – zum Beispiel Konsultationen oder öffentliche Debatten – anbieten, seit 2019 auch digital.
Auch in Deutschland ist im Rahmen der Bauleitplanung Bürgerinnenbeteiligung vorgesehen. Einzelne Städte gehen mit freiwilligen Angeboten wie „meinBerlin“ über die gesetzlichen Vorgaben hinaus. Doch längst ist Bürgerbeteiligung nicht mehr auf kommunale Belange beschränkt. In Frankreich reagierte Präsident Emmanuel Macron auf die Proteste der Gelbwesten mit einer „großen nationalen Debatte“, bei der Bürger Vorschläge einreichen und diskutieren konnten. Partizipation ist Zeitgeist. Auch Parteien folgen diesem Zeitgeist – aus Überzeugung, Opportunität oder auf Druck der Basis.
Eigentlich eine gute Sache, könnte man meinen. Schließlich können gut gestaltete Beteiligungsprozesse Gesetze, Vorhaben und Programme verbessern, Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen und Politik greifbarer machen. Aber häufig wird in der Debatte ein entscheidender Punkt vergessen: Der Aufbau eines Beteiligungsprozesses entscheidet mit über sein Ergebnis.
Digitale Beteiligung: Keine Kompetenz beim Staat
Anders als zum Beispiel in den Bereichen Steuererhebung oder Durchführung von Wahlen, hat der Staat im Bereich Partizipation bisher kaum Kompetenzen. Parteien geht es genauso. Zur Unterstützung von Behörden, Institutionen und Parteien hat sich daher eine Community von überwiegend jungen Unternehmen gebildet. Ihr Versprechen: moderne Beteiligungsprozesse den Wünschen oder Auflagen entsprechend umzusetzen.
So wurde beispielsweise die oben genannte „große nationale Debatte“ in Frankreich von dem französischen Start-up „Cap Collectif“ durchgeführt. Das Beratungsunternehmen IFOK berät deutsche Ministerien und Landesregierungen und führt Beteiligungsprozesse durch. Das Unternehmen Liegey Muller Pons (LMP) aus Paris unterstützte bereits die Partei „La République en Marche“, die Grünen in Bayern und die spanischen Sozialisten.
Die Unternehmen der Beteiligungsindustrie konkurrieren miteinander, indem sie neue, innovative Verfahren der Mitbestimmung entwickeln: Mitgliedern werden interaktive Workshops und Diskussionsformate oder die Beteiligung über Online-Plattformen angeboten. Alles, was die Behörden, Institutionen oder Parteien noch tun müssen, ist das Verfahren auszuschreiben und den Auftrag zu vergeben. Um den Rest kümmert sich ein Unternehmen. Democracy on demand, Demokratie auf Bestellung. Nach und nach entwickeln die Unternehmen gegenüber staatlichen Stellen so einen uneinholbaren Wissensvorsprung. Zurzeit liegt darin kein Problem, da Beteiligung häufig bestenfalls ein „nettes Extra“, schlimmstenfalls eine lästige Verpflichtung ist.
Doch weil Bürger mehr direkte und verbindliche Mitbestimmungsmöglichkeiten fordern, gewinnen Beteiligungsprozesse an Gewicht. Weil größere, komplexere Beteiligungsverfahren mehr Umsatz und Einfluss für die Unternehmen bedeuten, werben sie gezielt für mehr Beteiligung. So haben etwa verschiedene Partizipationsunternehmen in Frankreich die „Initiative für eine nachhaltige Demokratie“ gestartet, in der sie für mehr Beteiligung werben und sich als die „natürlichen Alliierten von Demokratien“ präsentieren. Durch die Lobby-Tätigkeiten der Unternehmen gewinnt Bürger- beziehungsweise Mitgliederbeteiligung an Relevanz und wird nach und nach zu einem integralen Element der Demokratie.
Nun könnte man sagen: Unternehmen sind agiler und innovativer als Verwaltungen oder Geschäftsstellen von Parteien. Ohne sie erreichen wir niemals anständige Beteiligungsprozesse. Moderne, innovative Partizipation braucht wirtschaftlichen Druck, um sich zu entwickeln. Daher sollte Bürgerinnenbeteiligung an private Unternehmen ausgelagert werden. Doch dieser Gedanke ist aus drei Gründen gefährlich für die Demokratie.
Wissensvorsprung der Unternehmen wächst weiter
Erstens führt er in einen Teufelskreis. Nachdem sich der Staat in den letzten Jahrzehnten in einer Art andauernden „Midlife Crisis“ bereits aus zahlreichen zentralen Bereichen zurückgezogen hat, droht er nun das Selbstbewusstsein und die Fähigkeiten zu verlieren, demokratische Prozesse zu organisieren. Auch Parteien laufen Gefahr, in ihrem Kernbereich, der demokratischen Willensbildung, den Anschluss zu verpassen. Staat und Parteien folgen so der Logik von Konzernen, die immer mehr ihrer Kernaufgaben an Dritte auslagern, um Kosten zu sparen. Alles, was bleibt, ist der Wert der Marke.
Je länger Behörden, Institutionen und Parteien warten, Kompetenzen über Beteiligungsprozesse aufzubauen, desto schwieriger wird es für sie, den Wissensvorsprung der Unternehmen einzuholen. Ab einem gewissen Punkt bleibt ihnen keine andere Wahl mehr, als privaten Unternehmen den Prozess zumindest in Teilen zu überlassen.
Im Bereich neuer, innovativer demokratischer Prozesse wiegt das Problem noch schwerer, denn hier gibt es kein vorhandenes Wissen, auf das zurückgegriffen werden könnte. Wissen entsteht und bleibt zur Zeit exklusiv in der Hand der Unternehmen. So entstehen Abhängigkeiten zu Unternehmen, die es in einer Demokratie nicht geben sollte. Den Institutionen bleibt nur die Wahl zwischen einer dauerhaften Zusammenarbeit zu den Konditionen der Unternehmen oder einem Rückfall in Prozesse aus vergangenen Zeiten.
Staat und Parteien verlieren Glaubwürdigkeit
Der zweite Grund, warum Beteiligungsunternehmen zu einer Gefahr für die Demokratie werden können, sind mögliche Interessenkonflikte. Nach der derzeitigen Boom-Phase wird es voraussichtlich, wie in anderen Wirtschaftsfeldern, zu einer Konsolidierungs- und Selektionsphase kommen. Einzelne Unternehmen werden sich professionalisieren, sich zusammenschließen und wachsen, während andere Unternehmen vom Markt gedrängt werden. Wenn wir gleichzeitig von einer Bedeutungs- und Umsatzzunahme von Beteiligungsprozessen ausgehen, können wir annehmen, dass wenige große Unternehmen den Markt für Partizipation unter sich aufteilen werden.
Dadurch wird die Anzahl der Anbieter für einen Beteiligungsprozess vermutlich stark sinken. Wegen des begrenzten Markts müssen Auftraggeber möglicherweise mit Unternehmen zusammenarbeiten, bei denen Interessenkonflikte vorliegen. Die Demokratie droht so, ihr höchstes Gut zu verlieren – ihre Glaubwürdigkeit. Denn die einen Beteiligungsprozess durchführende Organisation muss absolutes Vertrauen in ihre Unabhängigkeit genießen. Bei Unternehmen und Konzernen dagegen bestehen immer die Gefahr und der Verdacht von Interessenkonflikten, beispielsweise um einen weiteren Kunden oder ein eigenes Angebot zu bevorteilen.
Sensible Daten gehören nicht in Unternehmenshand
Möglicher Datenmissbrauch ist ein dritter Grund, warum die Entwicklung zu einer privatisierten Demokratie gefährlich ist. Denn Beteiligung, besonders digitale, produziert private und höchst sensible Daten. Solche Daten sind bei privaten Unternehmen in den falschen Händen. Wir sehen schon heute, wie Unternehmen aus immer mehr Bereichen versuchen, selbst intimste Daten zu erheben und unser Verhalten analysieren, um die Erkenntnisse, beispielsweise für personifizierte Werbung, zu verkaufen. Es gibt keinen Grund, warum Unternehmen das nicht auch im Bereich der Partizipation versuchen sollten. Schon jetzt werden Daten aus Beteiligungsprozessen üblicherweise nicht beim Staat oder der Partei gespeichert, sondern auf den Servern der Beteiligungsunternehmen. Die Verlockung, die anfallenden Daten aus demokratischen Prozessen kommerziell drittzunutzen, ist im Kontext eines außer Kontrolle geratenen Digitalkapitalismus riesig.
Die Nutzung solcher Daten würde in letzter Konsequenz erlauben, dass finanzstarke Akteure bei künftigen Beteiligungsverfahren das Abstimmungsverhalten der Bürger zu ihren Gunsten beeinflussen können. Wer sich den Zugang zu Demokratie-Daten leisten kann, kann Bürger manipulieren und so Abstimmungsergebnisse steuern. Je mehr Macht wir also in die Hände einer partizipativen, aber privatisierten Demokratie legen, desto schneller bewegen wir uns in die von Colin Crouch beschriebene Postdemokratie. Der ursprüngliche Ruf nach mehr Demokratie wird so ad absurdum geführt.
Zwar könnten am Anfang starke Datenschutz-Regelungen stehen. Diese können aber ignoriert oder aufgeweicht werden oder neue Innovationen gar nicht erst umfassen. Shoshana Zuboff beschreibt in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, wie beispielsweise Google mit aggressiven Übergriffen auf die Privatsphäre die bisher dagewesenen Datenschutznormen völlig pulverisierte. Mögliche Interessenkonflikte sowie die Gefahr eines Datenmissbrauchs sollten also Anlass zu höchster Sorge sein. Denn bei nur wenigen in Frage kommenden Anbietern und gleichzeitiger Abhängigkeit von ihren Dienstleistungen sitzen die Unternehmen am längeren Hebel. Es ist zu befürchten, dass sie ihre Machtpositionen gegenüber dem Staat ausnutzen werden – auf Kosten der Demokratie.
Partizipation muss beim Staat bleiben
Sollte man Partizipation also lassen? Nein. Mehr gut organisierte und verbindliche Beteiligung ist wünschenswert, denn sie führt zu einer nachhaltigeren Demokratie – aber sie sollte nicht in den Händen privater Unternehmen liegen. Besser wäre es, die Demokratie in staatlicher Hand zu lassen, denn der Staat ist allein dem Gemeinwohl verpflichtet. Kommunen und Kreise könnten gemeinsam regionale Kompetenzzentren für Beteiligung gründen. Die Zentren würden staatlich finanziert, sind aber unabhängig und nicht weisungsgebunden innerhalb ihres Mandats. Sie unterliegen Transparenzpflichten und demokratischer Kontrolle, um Daten- und Machtmissbrauch sowie Interessenkonflikte zu verhindern. In ihnen könnten Moderatorinnen ausgebildet, Beteiligungsprozesse organisiert und Erfahrungen ausgetauscht werden.
In überregionalen Zentren könnten darüber hinaus neue Formate und offene Software entwickelt werden. Dabei sollten zivilgesellschaftliche Projekte mit dem Gießkannenprinzip gefördert werden. Erfolgreiche und vielversprechende Konzepte der Zivilgesellschaft sollten übernommen, professionalisiert und skaliert werden – am besten, indem man dem Team des jeweiligen Projekts Verträge und ein attraktives, selbstbestimmtes Arbeitsumfeld anbietet. Auch Parteien sollten neu denken: Weder sich auf den alten Prozessen auszuruhen noch die innerparteiliche Demokratie auszulagern sind zukunftsfähige Wege. Parteien müssen daher jetzt beginnen, intern Kompetenzen und Wissen aufzubauen.
Die Demokratie braucht dringend ein Update, um die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu lösen. Doch auch wenn kapitalistische Ideen und Strukturen uns am nächstliegenden erscheinen: eine zunehmend privatisierte Demokratie ist nicht die Lösung.
Clemens Holtmann ist Co-Geschäftsführer der Generationen Stiftung, der Interessenvertretung für kommende Generationen. Davor war er aktiv für Demokratie in Bewegung und Demokratie in Europa. Dieser Beitrag erschien als zuerst als Discussion Paper beim Thinktank Das Progressiven Zentrum.