Der Autor Neal Stephenson bezeichnet mit dem Begriff „Metaverse“ in seinem Science-Fiction-Roman „Snow Crash“ von 1992 eine von Großkonzernen und organisierter Verbrechen dominierte, widerwärtige Parallelwelt, in der Menschen als Avatare leben. Das klingt erstmal nicht so attraktiv. Und doch investieren Unternehmen wie Meta und Zepeto derzeit Milliarden in die Schaffung des Metaverses – eines Internets, in das wir durch die Kombination von virtueller und erweiterter Realität eintauchen können sollen. Für viele stellt diese neue, künstliche Welt eine zweite Chance, einen besseren Platz in der Gesellschaft, ein schöneres Aussehen, eine zauberhafte Wirklichkeit dar – oder wird das Metaverse doch so abstoßend, wie es die narrative Beschreibung von Stepherson verheißt?
Zu berücksichtigen ist, dass wir alles, was wir im jetzigen, realen Leben nicht gelernt haben, auch in einem zweiten, parallelen Lebensraum nur schwer besser machen können. Das inkludiert auch das Potential rassistische Vorurteile, Diskriminierung und Exklusion zu verstärken und die intellektuelle Degenerierung von Menschen hin zu „künstlicher Dummheit“ zu fördern, indem der bereits existierende Effekt von Filterblasen noch ausgeweitet wird. Wenn wir bedenken, welche Schäden bereits Social Media bei unserer mentalen Gesundheit verursacht – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen –, lässt sich erahnen, was das Metaverse in unseren Köpfen und Körpern anrichten könnte.
Rahmenbedingungen für einen besseren virtuellen Raum schaffen
Nichtsdestotrotz wird aufgrund der prophezeiten ökonomischen Chancen dieser künstlichen Welt bereits die Infrastruktur des Metaverse von multinationalen Technologiekonzernen eifrig entwickelt. Im Zuge dessen sollten wir unbedingt die ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für einen besseren virtuellen Raum schaffen. Bereits jetzt machen wir im Internet und auf Social Media unsere Daten offen zugänglich, wer und wie wir sind (Verhaltensmuster) sowie was wir wollen (Interessen, Präferenzen).
Im Metaverse offenbaren wir zusätzlich noch, wovon wir träumen und das macht uns noch verletzbarer. Die Menschenrechte auf Datenschutz und Privatsphäre stehen im Metaverse in besonders hohem Maße auf dem Spiel. Auch der Schutz der physischen und psychischen Integrität ist gefährdet, denn wie gehen wir zukünftig mit Übergriffen auf unseren Avatar um, von denen wir körperlich nichts merken?
Den einzelnen Staaten, der internationalen Gemeinschaft, Unternehmen und Expert:innen wie z. B. User Experience Designer:innen (UX-Designer:innen) kommt hier die Verantwortung zu, nicht einfach zuzuschauen, wie mehr und mehr in das Metaverse als rechtsfreier Raum investiert wird, sondern dafür zu sorgen, dass von Anfang an ein menschenrechtsbasiertes und nachhaltiges Metaverse aufgebaut wird. Die Menschenrechte sind als Mindeststandard im Metaverse umsetzbar. Sie ermöglichen eine Konzentration auf das Wesentliche und Wichtigste.
Ein menschenrechtsbasiertes und nachhaltiges Metaverse umfasst beispielsweise, dass die Daten der Nutzer:innen nicht an die Meistbietenden weiterverkauft werden dürfen. Darauf basierende Geschäftsmodelle sind zu unterbinden. Dies bedeutet auch, dass keine Möglichkeit bestehen sollte, dass Menschen sich und ihre Daten sowie ihre Privatsphäre als Produkte verkaufen können. Denn die Menschenrechte wollten ja gerade verhindern – mit dem Sklavereiverbot –, dass wir uns aufgrund wirtschaftlicher Not oder ökonomischer Anreize versklaven.
Neue UN-Institution als Lösung?
Die gute Nachricht ist: Wir müssen das Rad nicht neu erfinden! Es gilt einzig, schnell, konsequent und effektiv sicherzustellen, dass die gleichen ethischen und rechtlichen Prinzipien und Normen, die offline gelten und durchgesetzt werden sollten, auch im Metaverse gelten und umgesetzt werden. Nicht nochmals sollte die Menschheit – wie bei bisherigen Schritten der digitalen Transformation und des Einsatzes von datenbasierten Systemen (DS) – lange Zeit bei massiven Menschenrechtsverletzungen durch Konzerne zusehen, bis sie endlich aufgrund mutiger Whistleblower:innen nicht mehr anders kann, als derartige Geschäftsmodelle zu unterbinden.
Eine mögliche Lösung wäre, dass Staaten eine Internationale Agentur für datenbasierte Systeme (International Data-Based Systems Agency DSA) bei den Vereinten Nationen (UN) als globale Aufsichts- und Überwachungsinstitution sowie als Regulierungsbehörde im Bereich der digitalen Transformation und DS errichten – analog zur Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Die DSA könnte die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der digitalen Transformation und der DS, der Nachhaltigkeit, der Sicherheit sowie der friedlichen Nutzung von DS fördern und im Zuge dessen für ein menschenrechtsbasiertes und nachhaltiges Metaverse sorgen. Denn dann sind nicht nur unsere wirtschaftlichen und persönlichen Interessen, Daten und Privatsphäre gesichert, sondern auch unsere Träume.
Peter G. Kirchschläger ist Ethikprofessor und
Leiter des Instituts für Sozialethik ISE der Universität Luzern (Schweiz). Er beschäftigt sich insbesondere mit den Folgen der Digitalisierung, unter anderem in dem Buch Digital Transformation and Ethics.