Bei Bombenentschärfungen, Unwetter, Hochwasser, Waldbränden oder Chemieunfällen soll das deutsche Warnsystem die Bürger*innen zuverlässig und minutenschnell informieren. Doch gerade hinsichtlich der Digitalisierung und Modernisierung des deutschen Warnsystems gibt es blinde Flecken: der App-basierte Ansatz in Deutschland erreicht nicht die Breite der Bevölkerung und erfüllt nicht die Anforderungen der bis 2022 umzusetzenden EU-Richtlinie. Bei Gefahren muss die Bevölkerung schnell und zuverlässig informiert werden. Eine sinnvolle Ergänzung zum jetzigen Warnmix aus digitalen und analogen Kanälen stellt Cell Broadcasting dar.
Der Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit kurzer oder gar keiner Vorwarnzeit ist eine entscheidende Herausforderung. Umso wichtiger ist es, die gesamte Bevölkerung einheitlich, schnell und effizient zu warnen. Denn die negativen Folgen von Katastrophen lassen sich oft durch rechtzeitige Warnungen eindämmen. Zur Probe dieses Szenarios soll es eigentlich einen jährlich stattfindenden Warntag geben, der in diesem Jahr für den 9. September 2021 geplant war. Dieser war bereits in den vergangenen Wochen abgesagt und auf September 2022 verlegt worden.
97 Prozent der Deutschen sehen Krisenwarnung als Staatsaufgabe
Nach dem Fehlschlag des Warntags 2020, hatte die Absage in den vergangenen Wochen bereits für Verunsicherung gesorgt, ob Deutschland für den Katastrophenfall gerüstet ist. Dabei sieht laut einer neuen von Everbridge in Auftrag gegebenen Studie fast die gesamte Bevölkerung (97%) es in der Verantwortung des Staates, die Bürger im Falle von solchen Gefahrenlagen rechtzeitig zu informieren.
Öffentliche Warnsysteme werden von Regierungen weltweit verwendet, um schnell offizielle, wichtige Informationen an die Öffentlichkeit zu kommunizieren und Bürger*innen, Anwohner*innen und Tourist*innen vor drohenden und sich entwickelnden Notfällen und Katastrophen zu warnen. Diese öffentlichen Warnungen werden über eine Vielzahl von Kanälen übertragen, darunter Textnachrichten, Apps, SMS, Sirenen, Radio, Fernsehen oder soziale Medien. Entscheidend bei einem Warnsystem ist der Mix aus analogen und digitalen Kanälen. Denn unterschiedliche Kanäle erreichen auch unterschiedliche Bevölkerungsgruppen.
60 Prozent haben noch nie etwas von der NINA-App gehört
Auch die European Emergency Number Association (EENA) befürwortet einen Ansatz mit mehreren Warnkanälen: „Die EENA ist der Meinung, dass viele verschiedene Kanäle in Betracht gezogen werden müssen, um die Chancen zu maximieren, Informationen an so viele Menschen wie möglich zu verbreiten.“ In Deutschland setzt man auf einen App-basierten Ansatz unter anderem mit der Warn-App NINA, die ein wesentlicher Warnkanal des vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) betriebenen modularen Warnsystems ist.
Laut der Studie, für die mehr als 2500 Personen aus verschiedenen Altersgruppen befragt wurden, haben jedoch 60% der Bevölkerung noch nie etwas von der Warn-App NINA gehört. Und nur knapp 9 Millionen Menschen haben sie heruntergeladen. Des Weiteren können oder wollen sich über die Hälfte der Studienteilnehmer (52%) keine Warn-App herunterladen, etwa weil sie Datenschutzbedenken haben oder weil sie kein kompatibles Smartphone besitzen.
Warnsystem muss ab nächstes Jahr 95 Prozent der Bevölkerung erreichen
Die Ergebnisse zeigen die Schwächen eines digitalen Ansatzes, der ausschließlich auf einer App basiert: Er schafft nicht die notwendige Reichweite, insbesondere in der Breite der Bevölkerung. Dies schreibt die sogenannte EECC-Richtlinie aber vor. EECC steht für European Electronic Communication Code (Europäischer elektronischer Kommunikationskodex). Laut der Richtlinie müssen alle Länder der EU ein öffentliches Warnsystem mit modernen Kommunikationskanälen bis zum 21. Juni 2022 implementieren, mit dem sie 95 Prozent der Bevölkerung erreichen. Ein Warnmix, der App-basiert ist und nicht weitere digitale Technologien mit einschließt, entspricht nicht den Vorgaben dieser Richtlinie.
Andere Länder nutzen dazu bereits digitale Textnachrichten, sodass die Bürger*innen Warnungen per Push-Prinzip mit Weckfunktion auf ihr Handy erhalten. Bemerkenswerterweise will ein großer Teil (40%) der jungen Bevölkerung (18-29 Jahre) auch lieber über eine Textnachricht wie eine SMS informiert werden, anstatt über eine App (17%). Eine der Technologien dahinter heißt Cell-Broadcasting-Service.
Cell Broadcasting ist robust und effektiv
Solch ein digitales öffentliches Warnsystem auf Basis des öffentlichen Mobilfunknetzes gehört in Europa und der EU zu den Vorreitern. Griechenland und die Niederlande nutzen sie bereits. Und auch in Deutschland findet das Thema aktuell Beachtung. Sowohl in einem Acht-Punkte-Plan des Bundesministeriums des Innern (BMI) für die Neustrukturierung des BBK, als auch im jüngst veröffentlichten Wahlprogramm der Union wurde Cell-Broadcast als zusätzliche potenzielle Warntechnologie genannt.
Die Technologie gilt als sehr robust, da sie technisch simpel ist und mit einer niedrigen Datenlast auskommt. Zudem ist weder ein Download, noch eine Registrierung der Nutzer*innen erforderlich. Alle Handys in einer bestimmten Region können durch die zuständigen Behörden mit relevanten Information erreicht werden. Das bedeutet, dass auch Tourist*innen sich nicht extra eine App herunterladen müssen, sondern bei Gefahren automatisch per Textnachricht informiert werden.
Bei Gefahren ist es essentiell, die Bürger*innen auf so vielen analogen und digitalen Kanälen wie möglich zu erreichen. Mit einem rein App-basierten Ansatz ohne zusätzliche digitale Kanäle geht es nicht. Damit erreicht man keinen breiten Teil der Bevölkerung. Es liegt jedoch in der Verantwortung der zuständigen Behörden dies sicherzustellen. Denn es ist ihre Aufgabe, zu garantieren, dass das öffentliche Warnsystem zuverlässig und schnell informiert.
Rachele Gianfranchi ist Expertin für Katastrophenwarnschutz bei Everbridge, einem Hersteller von digitalen Krisen- und Katastrophenwarnsystemen.