Bis 2030 werden in Deutschland rund 5,2 Millionen qualifizierte Arbeitnehmer:innen aus dem Arbeitsmarkt austreten. Der gleichzeitig zu erwartende Arbeitsmarkt-Zutritt liegt lediglich bei 3,9 Millionen Berufseinsteiger:innen. Wie schmerzhaft der Fachkräftemangel ist, bekommen wir gerade allerorten zu spüren. Demografischer Wandel ist ein Fakt. Es wird vieler verschiedener Maßnahmen bedürfen, um seine Folgen in der Arbeitswelt zu minimieren. Zu diesem Maßnahmenpaket wird auch die Zuwanderung von Fachkräften gehören.
Warum mobile Arbeit inklusiv wirken kann
Mindestens ebenso wichtig ist die Mobilisierung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials. Hier haben wir noch längst nicht alles ausgeschöpft. Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland insbesondere bei der Integration von Menschen mit chronischen Krankheiten und Menschen, die Angehörige pflegen oder Kinder betreuen, deutlich hinterher. Bereits jetzt gibt es viele Anhaltspunkte, dass mobiles Arbeiten hier einen positiven Effekt hat.
Laut Hans-Böckler-Stiftung ermöglicht die Arbeit im Homeoffice Frauen und insbesondere Müttern „ihre Erwerbsarbeit auszudehnen“ und als Nebeneffekt langfristig damit auch noch die Lohnlücke zu männlichen Kollegen zu verringern. 82 Prozent aller berufstätigen Mütter wünschen sich flexible Arbeitsmöglichkeiten.
Ein anderes Beispiel: In Deutschland leiden 40 Prozent der Bevölkerung an chronischen Erkrankungen – 10 Prozent sind schwerbehindert. Mobile Arbeit kann den Arbeitsalltag dieser Menschen erleichtern. Wenn der Arbeitsweg entfällt und der Druck des „acht-Stunden-im-Büro-Seins“ schwindet, werden Hürden abgebaut, die einen großen Teil der Bevölkerung bisher von der Ausübung bestimmter Jobs ausschließen. Nach einer McKinsey-Untersuchung bevorzugen Menschen mit Behinderungen mit 11 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit ein hybrides Arbeitsmodell als Beschäftigte ohne Behinderungen.
Jetzt bloß nicht auf der Stelle stehen bleiben
Auch Menschen in Regionen, die von starker Arbeitslosigkeit betroffen sind, wird mit mobiler Arbeit eine neue Perspektive geboten. Mit der Möglichkeit, mobil oder hybrid zu arbeiten, stieg laut Indeed im Vereinigten Königreich die Anzahl der Stellenausschreibungen in ländlichen Regionen teilweise um bis zu 650 Prozent. Mobile Arbeit hat damit auch das Potenzial, ländliche Räume zu beleben und gleichzeitig Städte zu entlasten.
In vielen Unternehmen gibt es bereits eine hohe Bereitschaft, mobiles Arbeiten zu ermöglichen. Denn die Erfahrungen während der Pandemie waren überwiegend positiv, wie Studien belegen. Spotify hat nach 18 Monaten „Work from Anywhere“ verkündet, dass die Fluktuation im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie gesunken ist und die Belegschaft an Diversität gewonnen hat. Laut einer Studie der Universität Konstanz liegt „der Wunsch nach mobilem Arbeiten über 20 Monate hinweg konstant bei ca. 2,9 Tagen pro Woche“. In einer aktuellen Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim (ZEW) geben Unternehmen an, dass zukünftig durchschnittlich 24 Prozent der Arbeitszeit in der Informationswirtschaft von zuhause gearbeitet werden wird.
Warum die Gesetzgebung hinderlich ist
Das Problem ist: Die aktuelle Gesetzgebung kennt „mobiles Arbeiten“ nicht und legt Unternehmen, die mobiles Arbeiten anbieten möchten, Steine in den Weg. Egal ob Konzern, Vereine, Start-ups oder KMU: alle sind dabei auf sich allein gestellt und müssen neue Wege finden und gehen. Nach der Arbeitsstättenverordnung gibt das reguläre Arbeiten an der Betriebsstätte: In der Arztpraxis, dem Supermarkt, der Kita, im Büro. Und es gibt die sogenannte Telearbeit, die das Arbeiten zuhause rechtlich regelt. Bei Telearbeitsplätzen handelt es sich nach § 2 Abs. 7 Satz 1 ArbStättV um „vom Arbeitgeber fest eingerichtete Bildschirmarbeitsplätze im Privatbereich der Beschäftigten, für die der Arbeitgeber eine mit dem Beschäftigten vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit und die Dauer der Einrichtung festgelegt hat“. Es handelt sich dabei also nicht um den Sitzplatz in der Deutschen Bahn, den Co-Working Space oder gar den eigenen Küchentisch.
Sowohl die Vorteile mobilen Arbeitens als auch die aktuelle rechtliche Problematik sind dem Gesetzgeber bekannt. Zum einen gab es bereits in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf, der mobiles Arbeiten rechtlich verankern sollte. Zum anderen wurde mobiles Arbeiten gerade unter den erschwerten Umständen der Pandemie deutschlandweit als Ausnahme erlaubt und erprobt und wir haben gesehen: es funktioniert. Und selbst im Koalitionsvertrag hat die Ampel bereits ein klares Ziel definiert: „Homeoffice grenzen wir als eine Möglichkeit der Mobilen Arbeit rechtlich von der Telearbeit und dem Geltungsbereich der Arbeitsstättenverordnung ab […] Beschäftigte in geeigneten Tätigkeiten erhalten einen Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice […] Mobile Arbeit soll EU-weit unproblematisch möglich sein.“
Möglichkeiten nicht verstreichen lassen
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) lässt auf einen neuen Gesetzesentwurf, der den Erörterungsanspruch auf mobiles Arbeiten regelt, warten. Der alte Gesetzesentwurf scheint nicht mehr zur Diskussion zu stehen. Das ist enttäuschend, denn: Die Flexibilisierung, die aufgrund des außergewöhnlichen Notfalls, des Coronavirus, zwischenzeitlich rechtlich möglich war, ist inzwischen ausgelaufen.
Klar ist: Unternehmen und Beschäftigte brauchen rechtliche Sicherheit! Der Gesetzgeber muss einen rechtlichen Rahmen für mobiles Arbeiten schaffen, der eine einheitliche Grundlage bietet, offene Fragen zu Versicherung, Kostenübernahme, die Zuordnung zu Rechtskreisen etc. klärt und praxistauglich ist. Die Unternehmen stehen vor den gleichen rechtlichen Herausforderungen bei der Implementierung mobilen Arbeitens. Es kann keine Lösung sein, sie damit alleine zu lassen.
Für rechtliche Sicherheit muss mobile Arbeit, erstens, als reguläre Alternative zur Büroarbeit oder klassischer Telearbeit anerkannt werden, mit ausgewogenen Rechten und Pflichten für Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber.
Ein Rechtsrahmen für mobile Arbeit muss, zweitens, unbürokratisch und einfach umzusetzen sein, um insbesondere Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen von KMU zu entlasten. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sollen mobiles Arbeiten fördern, nicht bremsen und müssen ohne das Aufbringen großer Ressourcen erfüllbar sein.
Der rechtliche Rahmen muss, drittens, Flexibilität ermöglichen. Produktionsbetriebe unterliegen anderen Logiken als Digitalunternehmen. KMU gestalten mobile Arbeit anders als Konzerne. Unternehmen muss die Möglichkeit gegeben werden, die Parameter mobiler Arbeit (zum Beispiel die Arbeitszeiterfassung) selbstständig zu definieren und individuell an ihre Bedürfnisse anzupassen.
Die Uhr tickt, der Fachkräftemangel spitzt sich zu. Warum dabei zusehen, wenn es einfache Mittel gibt, dem zu begegnen? Die Lösungsansätze liegen klar auf der Hand: Der Gesetzgeber sollte mobiles Arbeiten sowohl als Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland als auch für die Beschäftigten sehen und mobiles Arbeiten zeitnah unbürokratisch ermöglichen. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer:innen brauchen Rechtssicherheit. Sozialpartner und Arbeitgeber – von Konzernen über KMUs bis hin zu Startups – stehen zum Dialog bereit. Es wäre schade, wenn Deutschland diese Chance nicht einfach mal ergreifen und umsetzen würde.
Lena M. Stork ist Government Relations Manager bei Zoom Video Communications und engagiert sich im Vorstand von D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt e.V. für progressive Digitalpolitik. Um den Dialog zwischen Wirtschaft und Politik voranzutreiben, haben Zoom und andere Unternehmen die Mobile Work Alliance gegründet – ein informeller Zusammenschluss, dem auch Dropbox, Omio, Osborne & Clarke, S-Kreditpartner und Xayn angehören.