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Digitalisierung & KI

Standpunkte Macht die KI uns zu Cyborgs?

Angelika Bullinger-Hoffmann, Professorin für Arbeitswissenschaft und Innovationsmanagement, Technische Universität Chemnitz
Angelika Bullinger-Hoffmann, Professorin für Arbeitswissenschaft und Innovationsmanagement, Technische Universität Chemnitz Foto: Philipp Hiersemann

Künstliche Intelligenz (KI) wird den Arbeitsalltag der Menschen umfassend verändern. In der KI-Entwicklung sind jedoch häufig technische Möglichkeiten bestimmend. Ein Fokus auf die menschlichen Nutzer hätte dabei viele Vorteile für die Arbeitenden und die Unternehmen. Wie KI ein unterstützendes Instrument werden kann und die Unternehmen nicht versehentlich Arbeitsplätze für Cyborgs schaffen, beschreibt Angelika Bullinger-Hoffmann.

von Angelika Bullinger-Hoffmann

veröffentlicht am 27.05.2024

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Wird der Einsatz von KI am Arbeitsplatz diskutiert, kommt es häufig zu kontroversen Standpunkten: Während einige Unternehmen optimistisch sind und darin Potenzial für die Beschleunigung und Vereinfachung von Prozessen sowie Verbesserung der Arbeitsbedingungen sehen, sind andere skeptisch hinsichtlich der potenziellen Unbeherrschbarkeit und Übernahme der Entscheidungen durch die KI statt durch die Mitarbeiter. Dabei müsste die Debatte viel mehr über die Arbeitstätigkeiten geführt werden, die in den Unternehmen erledigt werden.

Substitution, Polarisierung oder Anreicherung

Wie die Expertise „Künstliche Intelligenz und industrielle Arbeit“ des Forschungsbeirats Industrie 4.0 darstellt, lässt sich der Einsatz von KI und die Auswirkungen auf Arbeitsabläufe in die drei Entwicklungsszenarien für industrielle Arbeit einordnen. Diese beschreiben die Substitution menschlicher Arbeit, die Polarisierung sowie die Anreicherung von menschlichen Tätigkeiten.

Bei der Substitution geht es darum, dass KI menschliche Arbeit ersetzen kann, beispielsweise beim Verfassen von stark standardisierten Texten wie Werbetexten für neue Produktgenerationen. Der Anteil dieser Tätigkeiten ist insbesondere in der Industrie sehr gering.

Eine Polarisierung tritt zum Beispiel dann auf, wenn hochqualifizierte Mitarbeiter ein Sprachmodell trainieren, mit dessen Unterstützung weniger qualifizierte Mitarbeiter im Kundenservice für Fertigungsmaschinen tätig werden. Studien haben gezeigt, dass die weniger qualifizierten Mitarbeitenden sogar dann vergleichbar gute Ergebnisse erzielen, wenn die KI ihnen keine Formulierungsvorschläge mehr liefert, weil sie ausfällt. Offenkundig müssen hochqualifizierte Mitarbeitende besondere Anreize erhalten, damit sie ihre Erfahrung derart teilen – und damit ihre Alleinstellung aktiv abgeben. Weiterqualifikation kann ein möglicher Anreiz sein, auch (andere) Tätigkeiten mit mehr Verantwortung reizen Hochqualifizierte. Damit jedoch nicht genug: Am anderen Ende der Polarisierung erledigen nun geringer qualifizierte Personen mithilfe der KI Arbeit auf hohem Niveau, was ohne aktive Begleitung bei diesen Mitarbeitenden zu (Lohn-)Unzufriedenheit führen und die Motivation senken kann. Zu bedenken sind außerdem Personen mittleren Qualifikationsniveaus, bei denen kein wesentlicher Gewinn aus der Nutzung von KI entsteht und die sich in ihrem Kompetenzniveau nicht mehr wertgeschätzt sehen.

Führungsebene muss Mitarbeitende einbeziehen

Um zu verhindern, dass die Polarisierung die Ungleichheit im Unternehmen verschärft, ist die Führungsebene gefragt, um KI- Entwicklung und -Einsatz von Anfang an mit den späteren Nutzenden zu diskutieren und gemeinschaftlich Lösungen zu finden. Dies erfordert Engagement: Gerade wenn es um Weiterbildung geht, kommt es in kleinen und mittleren Unternehmen schnell zu Engpässen. Dort fehlen Kapazitäten im Unternehmen, wenn ein Kollege auf Weiterbildung geht. Daher sind auch etwa Hochschulen gefragt, die Angebote zum KI-Einsatz entwickeln. Haben diese Potenzial zur Polarisierung, müssen neben technischen Anforderungen und gemeinschaftlichen Umsetzungskonzepten auch einfache Befähigungskonzepte an die KMU mitgeliefert werden.

In der industriellen Fertigung ist vor allem mit einer Anreicherung von menschlicher Tätigkeit zu rechnen. Vorstellbar ist etwa eine KI, die einer Logistikplanerin verschiedene technisch mögliche und in Echtzeit bewertete Handlungsoptionen präsentiert, die die Planerin aufgrund ihrer Erfahrung abwägt und die beste auswählt. Damit dies von den Mitarbeitenden akzeptiert wird, ist neben einem frühzeitigen Einbezug in die Entwicklung die wahrgenommene Handlungsfreiheit von großer Bedeutung. Fühlen sich die Menschen von der KI bevormundet, wird diese nicht mehr als unterstützendes, sondern als einschränkendes Element wahrgenommen.

Aus- und Weiterbildung zu KI

Nicht zu vergessen ist das Potenzial, dass durch den Einsatz von KI gänzlich neue, bisher in der industriellen Arbeit kaum oder wenig benötigte Jobprofile entstehen oder stärker nachgefragt werden. So wird es zukünftig etwa Fachleute brauchen, die Data-Analytics-Plattformen aufbauen und betreuen könnten oder KI-Robotiker, die von Anfang an die Schnittstelle zwischen Mensch, Roboter und KI humanzentriert gestalten.

Die Ausbildung für neue Jobprofile sowie die Weiterbildung aller Beschäftigen, die mit KI in ihrer Tätigkeit zu tun haben und zunehmend digitale Fähigkeiten besitzen und neuen digitalen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen sein sollten, muss an Schulen, Hochschulen und Ausbildungsstätten priorisiert werden. Eine Bachelor- oder Ausbildungsdauer von drei Jahren Dauer ist zu schwerfällig, um den Bedarf in den Unternehmen zu decken. Es müssen daher andere Formate entwickelt werden, um gerade auch Führungskräften in kurzen, fokussierten Modulen das handlungsrelevante Wissen zu vermitteln.

Dies muss gelingen, um einerseits nicht den Anschluss an die globalen Unternehmen zu verlieren, die das Potenzial von KI heute schon für sich nutzen zu können. Andererseits gilt es auch zu vermeiden, dass aus Unkenntnis in den Unternehmen nur auf standardisierte, absehbar marktbeherrschende KI-Tools zurückgegriffen wird und eine unselige Abhängigkeit entsteht.

One size fits one

Die Einführung von KI-Tools ist von der Einführung eines Standardprogramms zur Buchhaltung oder Lagerverwaltung so verschieden, dass grundsätzlich von einer iterativen Anpassung und Einführung gesprochen werden sollte.

Dass die Qualität von KI-Vorschlägen wesentlich davon abhängig ist, welche Daten ihr zur Verfügung stehen, ist für generative Sprachmodelle wie ChatGPT mittlerweile bekannt. Übertragen auf den Unternehmensalltag bedeutet dies gerade in KMU, dass zunächst Datengenerierung und -management geordnet werden müssen. Liegt die Datenbasis etwa in Form nicht maschinenlesbarer Angebotsdokumente oder in ERP Systemen ohne Datenschnittstelle vor, so muss erst eine Digitalisierung im Schnelldurchlauf angekurbelt werden, um überhaupt eine Datenbasis für KI-Anwendungen zu schaffen. Positiv gesagt: Unternehmen, die die Digitalisierung in den vergangenen Jahren vorangetrieben haben, profitieren davon stark bei der Einführung von KI.

Sind die Daten erst einmal strukturiert, generiert und aufbereitet, sind gestaltende Entscheidungen zu treffen, die selbst bei ähnlichen Anwendungsfällen die Auswirkungen einer KI-Einführung stark beeinflussen. Am Beispiel der Logistikplanerin lässt sich dies gut illustrieren: Der KI-Ansatz, der in einem Unternehmen mehrere Vorschläge zur Auswahl präsentiert und Entscheidungsspielraum lässt, kann durch Festlegung der Entscheidungskriterien im gleichen Anwendungsfall die Handlungsfreiheit auf ein Minimum reduzieren und quasi nur noch ein Akzeptieren der KI-Empfehlung zur Folge haben. Mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf die Logistikplanerin, die mit der KI zusammenarbeitet.

Da bei den Unternehmen und den Mitarbeitenden noch wenig Wissen zu Gestaltung, Einführung und Nutzung von KI vorhanden sind, müssen KI-Anwendungen für die jeweiligen Tätigkeiten auch regelmäßig überprüft und dabei kontinuierlich besser an die Bedarfe der Tätigkeit angepasst werden.

Austausch ist alles

Die Vielzahl der Stellschrauben, die es bei der Entwicklung, Einführung und Nutzung von menschzentrierter KI gerade in der Industrie zu betrachten gilt, legen einen engen Austausch mit anderen Unternehmen, Ausbildungsstätten und Forschungseinrichtungen nahe, um durch Erfahrungsaustausch gemeinsam weiterzukommen. Denn für künstliche wie menschliche Intelligenz gilt: Gemeinsam ist man schlauer.

Angelika Bullinger-Hoffmann ist Professorin für Arbeitswissenschaft und Innovationsmanagement an der Technischen Universität Chemnitz und geschäftsführende Leiterin am Institut für Betriebswissenschaften und Fabriksysteme. Außerdem ist sie Mitglied im Forschungsbeirat Industrie 4.0 und der acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften.

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