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Standpunkte Soziale Netzwerke brauchen eine Anschrift in Deutschland

Jonas Kahl, Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht bei der Kanzlei Spirit Legal
Jonas Kahl, Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht bei der Kanzlei Spirit Legal

Immer öfter urteilen Gerichte, dass Entscheidungen gegen Facebook & Co. nicht übersetzt werden müssen. Trotzdem sollten bei der Novellierung des NetzDG die Betreiber Sozialer Netzwerke verpflichtet werden, für sämtliche Rechtsstreitigkeiten eine Anschrift in Deutschland benennen zu müssen, fordert der Medienrechtler Jonas Kahl.

von Jonas Kahl

veröffentlicht am 30.01.2020

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Damit gerichtliche Entscheidungen wirksam werden, müssen sie dem Verpflichteten zunächst zugestellt werden. Facebook, Twitter & Co. haben ihren Sitz jedoch oft im europäischen Ausland. Wird ihnen eine gerichtliche Entscheidung in deutscher Sprache zugestellt, berufen sie sich oftmals darauf, die Schriftstücke seien nicht in ihrer Landessprache oder Englisch verfasst und daher für sie nicht zu verstehen. Sie verweigern die Annahme und fordern eine Übersetzung. 

Verfahren über Monate verzögert

Eine Vorschrift, die tatsächlich Sprachunkundige vor Benachteiligungen schützen und ihnen „rechtliches Gehör“ gewähren soll, führt für Nutzer, die gegen Soziale Netzwerke vorgehen wollen, also zu einer Reihe tatsächlicher und prozesstaktischer Herausforderungen:

Die lange Dauer der Zustellung ins Ausland an sich, die Übersetzung durch einen Dolmetscher und gegebenenfalls der Streit über die Notwendigkeit dieser Übersetzung verzögern das Verfahren erheblich. Dauert es im gerichtlichen Eilrechtsschutz innerhalb Deutschlands häufig nur wenige Tage, bis sich der Verpflichtete an eine gerichtliche Entscheidung zu halten hat, können bei Auslandssachverhalten schnell mehrere Monate vergehen. Zudem erhöht sich das Kostenrisiko des gerichtlichen Vorgehens für den Nutzer, da er auch noch etwaige Übersetzungskosten einpreisen muss.

Nutzer klagen häufiger gegen Soziale Netzwerke

Im vergangenen Jahr hatten sich Gerichte mehr als jemals zuvor mit dieser Frage zu befassen, zuletzt bezüglich Facebook das OLG Düsseldorf (Beschluss vom 18.12.2019, Az. I-7 W 66/19). Denn mittlerweile gehen Nutzer immer häufiger gerichtlich dagegen vor, dass Soziale Netzwerke ihre Kommentare löschen oder Accounts sperren.

Dies dürfte auch daran liegen, dass die Sozialen Netzwerke selbst strikter gegen rechtswidrige Inhalte vorgehen. Hierzu verpflichtet sie einerseits das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ (NetzDG). Andererseits haben sich die Plattformen aber zum Teil selbst auferlegt, stärker gegen „Hate Speech“ und Desinformation vorzugehen.

Egal aus welchem Grund, das Sperren oder Löschen von Beiträgen und Accounts erfordert jedenfalls eine vorherige rechtliche Prüfung durch die Plattform. Eine solche ist aber zeit- und ressourcenintensiv, weshalb sie oft Algorithmen überlassen wird. Sowohl den Algorithmen als auch den prüfenden Mitarbeitern unterlaufen bei der juristischen Prüfung von Inhalten hin und wieder Fehler, die dann zu einer Löschung bzw. Sperrung von eigentlich zulässigen Inhalten führen (sog. „Overblocking“).

NetzDG schafft bislang keine Abhilfe

Zwar legt das Netzwerkdurchsetzungsgesetz auch heute schon fest, dass Anbieter sozialer Netzwerke im Inland einen „Zustellungsbevollmächtigten“, also eine Anschrift in Deutschland, zu benennen haben. Was sich zunächst nach einer Lösung für sämtliche Zustellungsprobleme mit Sozialen Medien anhört, gilt tatsächlich aber nur für einen ganz spitzen Anwendungsbereich, nämlich allein die im NetzDG geregelten Äußerungen; neudeutsch würde man sie „Hate Speech“ nennen. Diese enge Auslegung der deutschen Zustellanschrift aus dem NetzDG hat im vergangenen Jahr auch das Kammergericht Berlin bestätigt (Beschluss vom 06.03.2019, Az. 10 W 192/18).

Oftmals geht es bei den Klagen betroffener Nutzer gegen die Löschung und Sperrung aber gar nicht um solche „Hate Speech“-Inhalte, sondern um Inhalte, die eigentlich zulässig sind und vom Sozialen Netzwerk nur irrtümlich als unzulässig gesperrt wurden. In diesen und vielen weiteren Fällen findet die deutsche Anschrift aus dem NetzDG keine Anwendung. Es bleibt nur der Postweg ins Ausland.

Gerichte beurteilen Gesamtbild der Plattform

In den Gerichtsverfahren setzt sich allmählich jedoch die Argumentation durch, man könne voraussetzen, dass die Dienste Deutsch verstehen. Mittlerweile gehen eine ganze Reihe von Gerichten davon aus, dass es für die Bewertung des Sprachverständnisses von Unternehmen nicht auf die Chefetage oder die Rechtsabteilung ankommt, sondern auf die im Unternehmen vorhandenen und verfügbaren Fähigkeiten. Dass entsprechende Sprachkompetenzen vorliegen, stellen sie meist dann fest, wenn in größerem Umfang Geschäfte in Deutschland getätigt werden.

Im Falle Sozialer Medien bewerten die Gerichte dies regelmäßig anhand des Gesamtbildes. Kriterien sind unter anderem die Anzahl der Nutzer in Deutschland, die Plattformausgestaltung in deutscher Sprache sowie die deutschen Vertragsunterlagen, wie AGB, Nutzungsbedingungen und sonstige Richtlinien. Ein weiterer Hinweis ist es, wenn das Soziale Medium einen Prozessbevollmächtigten benennt, der zur Sache vorträgt.

Aktuelle Novellierung des NetzDG bietet Chance

Der Rechtssuchende hat also immer bessere Chancen, bei der Auslandszustellung nicht auf eine Übersetzung angewiesen zu sein. Bis zu einer höchstinstanzlichen Klärung dieser Frage, bleibt aber weiterhin das Risiko, das einzelne Gerichte dennoch ein Übersetzungserfordernis bejahen.

Aktuell wird in der Bundesregierung über eine Novellierung des NetzDG debattiert. Dies wäre eine gute Gelegenheit, die Betreiber Sozialer Netzwerke zu verpflichten, für sämtliche Rechtsstreitigkeiten eine Anschrift in Deutschland benennen zu müssen. Dies würde betroffenen Nutzern sowohl die Übersetzung als auch die Auslandszustellung generell ersparen und damit den Rechtsschutz gegen rechtswidrige Sperren und Löschungen erheblich steigern und die Verfahren beschleunigen.

Jonas Kahl ist Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht bei der Kanzlei Spirit Legal Rechtsanwälte in  Leipzig. 

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