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Digitalisierung & KI

Standpunkte Wie die EU echte Technologiesouveränität verschläft

Anselm Küsters, Fachbereichsleiter Digitalisierung und Neue Technologien am Centrum für Europäische Politik
Anselm Küsters, Fachbereichsleiter Digitalisierung und Neue Technologien am Centrum für Europäische Politik Foto: Cep

Nur Zählbares zählt: Die europäische Digitalpolitik zieht immer häufiger quantitative Ergebnisse qualitativen Einsichten vor. Der Grund ist ebenso simpel wie falsch: Zahlen suggerieren Sicherheit und Kontrolle. Indem sich die Kommission auf das Messbare konzentriert und das Bedeutungsvolle vernachlässigt, droht sie sich von ihrem eigentlichen Ziel zu entfernen: echte Technologiesouveränität.

von Anselm Küsters

veröffentlicht am 23.05.2024

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Die Experten für Künstliche Intelligenz (KI) entwickeln derzeit die unterschiedlichsten Anwendungen – darunter auch kreative KI, die Kunst schaffen soll. Bei einem Treffen der Zunft fragte die Philosophie-Professorin C. Thi Nguyen jüngst provokant nach: Wie definieren die KI-Forschenden eigentlich „gute Kunst“? Die pragmatische Antwort: Angesichts mangelnder Alternativen verwende man Daten über die Verweildauer der Nutzer auf der Streaming-Plattform Netflix, um das System zu trainieren. Was lange und von vielen gesehen wird, ist wahrscheinlich gut – so die Annahme.

Nguyens Anekdote hat mehr mit guter Digitalpolitik für Europa zu tun, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Denn sie zeigt, wie leicht verfügbare Metriken dazu verleiten können, die falschen Aspekte zu optimieren – und wirft ein Schlaglicht auf die Herausforderungen, denen sich die nächste Europäische Kommission stellen muss. Ähnlich wie KI-Forscher, die fälschlicherweise künstlerischen Wert mit Streamingzeiten gleichsetzen, läuft auch die Europäische Union (EU) Gefahr, mit ihrem Aktionismus Nebensächlichkeiten – wie die Verteilung von Subventionen oder politische Selbstdarstellung – voranzutreiben, anstatt die Grundlagen für eine echte technologische Souveränität zu schaffen.

Messbare Metriken machen noch keine Strategie

Da digitale Technologien zunehmend das Rückgrat unserer Wirtschaft und Gesellschaft bilden, geht es bei technologischer Souveränität um weit mehr als Datenschutz und Fachwissen in Bereichen wie Halbleiterfertigung. Das Konzept umschreibt Europas zukünftige Fähigkeit, unabhängige politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen zu treffen. Zwar hat die Kommission mit ihrer geostrategischen Wende lobenswerte Schritte in Richtung einer solchen digitalen Souveränität unternommen.

Doch die politische Ausrichtung konzentriert sich auf quantifizierbare Ziele innerhalb fixer Zeitrahmen, von denen niemand sagen kann, ob sie eingehalten werden können. Ein Paradebeispiel ist der EU-Chips Act, der mit seinen massiven Subventionen einen bestimmten Weltmarktanteil in der Halbleiterproduktion erreichen soll. Ähnliches gilt für die Konnektivitätsziele der „Gigabit Society 2025“ und der „Digital Decade 2030“, die laut einer aktuellen Studie von vielen Mitgliedstaaten – darunter Deutschland – wohl verfehlt werden. Die KI-Strategie fördert eine kleine Menge an Supercomputern – in der Hoffnung, dass diese später genutzt werden.

Obwohl diese Maßnahmen jeweils spezifische Herausforderungen beantworten, drängen sie umfassendere Ziele in den Hintergrund und hinken, in ihrer tatsächlichen Umsetzung, den geschürten Erwartungen regelmäßig hinterher. Das liegt auch daran, dass die Fokussierung auf quantifizierbare „Targets“ einer institutionellen Eigenlogik folgt. So wie Nguyens Gesprächspartnern eine skalierbare bessere Alternative fehlte, so ist die heutige EU-Governance notwendigerweise auf einheitliche Metriken angewiesen, um eine immer heterogenere Gemeinschaft von Mitgliedstaaten zu koordinieren. Solche Zielwerte bieten Politikern die Möglichkeit, sich für das Erreichen von Meilensteinen in der Presse zu rühmen, und können als Anreizsystem für Beamte dienen, die in der Hierarchie aufsteigen wollen. Ein ganzheitliches Bild echter digitaler Souveränität wird dabei jedoch verfehlt.

Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen

Die Bedeutung von datenführenden Tiefseekabeln als Rückgrat unserer digitalisierten Gesellschaft veranschaulicht das Problem. Während die EU-Exekutive die strategische Rolle dieser Infrastrukturen nach Russlands Angriff auf die Ukraine erkannt hat und nun zurecht mehr geografische Diversifizierung anstrebt, behindern mangelnde Transparenz und finanzielle Beschränkungen die Umsetzung dieser Kehrtwende. Trotz eines detaillierten Bewertungsprozesses, der Kabelprojekte anhand von fünf Variablen – Priorität, Dringlichkeit, Reife, Qualität, Auswirkungen und Attraktivität für private Investitionen – quantifizieren möchte, spiegeln die zugewiesenen Mittel nicht immer den dringendsten Bedarf wider, was unter den Mitgliedstaaten zu Verwirrung und divergierenden Interessen geführt hat.

Weitere Beispiele ließen sich anführen: Im Zuge des neuen Weltraumrennens hat die EU zwar Konzepte für eine neue Satellitenkonstellation vorgelegt, ihr fehlen aber die finanziellen Mittel und die Innovationskraft, um eigene wiederverwendbare Trägersysteme zu entwickeln. So ist Europa gezwungen, seine Satelliten mit den Raketen von Space X, dem Unternehmen des exzentrischen Milliardärs Elon Musk, ins All zu befördern. Im Bereich der KI verfügt die EU zwar über talentierte Fachkräfte und Spitzenforschung, aber es fehlt ihr an spezialisierter Hardware, insbesondere an der nächsten Generation von KI-Chips, und an Risikokapital, um diese Innovationen voranzutreiben. Stattdessen konzentriert man sich auf eine restriktive KI-Gesetzgebung, die verheißungsvolle Start-ups verdrängen könnte.

Wenn sich rivalisierende Staatschefs wie Xi Jinping mit der heutigen Form von technologischer Geopolitik auseinandersetzen, dann tun sie dies nicht mit dem Ziel, Kennzahlen zu perfektionieren oder der Präsentation eines Unternehmensberaters zu folgen. Ihr Handeln folgt dem langfristig angelegten Bestreben, Einflusssphären auch im digitalen Raum zu erweitern. Dabei sind sich die Gegner des Westens bewusst, dass nicht jede Desinformationskampagne durch Bots oder jeder Cyberangriff unmittelbare, quantifizierbare Auswirkungen haben muss. Solche Aktionen sind vielmehr als Langzeitinvestitionen in die Destabilisierung des Westens zu verstehen. Im Gegensatz dazu zieht sich die EU auf attraktive Überschriften und messbare Indikatoren zurück, die eine Illusion von Kontrolle verschaffen.

Datengetriebene Politik scheitert an Polykrisen

Das europäische Projekt wurzelt eigentlich in einem eher qualitativen Verständnis von Politik, das in der Integration das wichtigste Mittel zur Befriedung des Kontinents sah – koste es, was es wolle. Auch die Freizügigkeit wurde nicht nur als wertvoller Beitrag zur Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes gesehen, sondern als Chance, die verschiedenen Kulturen Europas zu erleben. Der Euro diente als starkes Symbol der Gemeinschaft, trotz der anfänglichen Skepsis von Hartwährungsländern. Erst im Laufe der Zeit verschob sich dieses qualitative Verständnis hin zu einem technokratischen Ansatz. Heute scheint sich Europa vor allem als Herr über Budgets, Schwellenwerte und Zielgrößen zu generieren – doch wer nur etwas von Daten versteht, versteht auch davon nichts.

Grundsätzlich ist gegen einen datengestützten, evidenzbasierten Ansatz in der Politikgestaltung nichts einzuwenden. Er kann Vorurteile reduzieren und die Transparenz erhöhen. Problematisch wird es jedoch, wenn diese Methodik zum Selbstzweck wird oder allzu leicht manipulierbar ist. Gerade in Zeiten schnellen Wandels zeigt sich eine weitere Schwäche: Was gemessen wird, kann schnell an Relevanz verlieren. Genau in einer solchen Zeit des Umbruchs befinden wir uns derzeit – nicht nur aufgrund der geopolitischen Polykrise, sondern auch im Bereich der Technologie selbst: Neue KI-Architekturen mit unvorhersehbaren „Emergent Abilities“, Fortschritte in der Quantencomputertechnologie und der Kernfusion sowie überraschend robuste, Blockchain-basierte Währungen, die das Dollar-basierte Finanzsystem infrage stellen.

Auch Nicht-Zählbares zählt!

Wenn schnelle Veränderungen und Unsicherheiten die Norm sind, reichen Metriken nicht länger aus, um die technologische Souveränität Europas zu stärken. Es sind vielmehr die schwer quantifizierbaren, oft belächelten „Soft Factors“, die jetzt im Europawahlkampf in den Mittelpunkt rücken müssen. Gestaltungswille, anstelle von bürokratischen Hürden, Optimismus, der die vorherrschende Risikoaversion überwindet, sowie Neugier und Kreativität einer technisch affinen Bevölkerung, die sich nicht von Desinformation beirren lässt – das sind die Schlüsselqualitäten, die Europa voranbringen können. Mit führenden digitalen Unternehmen wie Skype und Bolt sowie fortschrittlichen politischen Ansätzen wie e-ID und X-tee, einer dezentralen Datenaustauschplattform, zeigt Estland, wie dies in der Praxis aussehen kann. Mit einer solchen Grundhaltung lässt sich nicht nur die „Resilienz“ gegenüber der nächsten Krise erhöhen, sondern der Umbruch als Chance sehen.

Optimismus und digitale Mündigkeit werden selbstverständlich nicht ausreichen – so wichtig diese Tugenden sind und so sehr sie bisher vernachlässigt wurden. Wie das Beispiel der Tiefseekabel zeigt, geht der geopolitische Wettlauf um Tech-Souveränität mit enormen finanziellen Investitionen einher. Die Suche von Open-AI-Chef Sam Altman nach 7 Billionen Dollar für den Aufbau von KI-Chip-Produktionskapazitäten oder die 40 Milliarden Dollar, die Saudi-Arabien für einen KI-Investmentfonds reserviert, veranschaulichen das Ausmaß der Herausforderung. Aber auch in finanzieller Hinsicht gilt es, die Detailversessenheit, so nützlich sie in stabilen Zeiten sein mag, aus strategischen Gründen gelegentlich hintanzustellen. Echte Technologiesouveränität hat ihren Preis – dieser Zielkonflikt muss klar benannt, demokratisch ausgehandelt und dann in zügiges Handeln umgesetzt werden.

Anselm Küsters leitet den Fachbereich Digitalisierung und Neue Technologien am Centrum für Europäische Politik (CEP) in Berlin.

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