Wer in die Medien schaut, der gewinnt den Eindruck, dass Pessimismus das allgemeine Lebensgefühl in Deutschland ist. Menschen fühlen sich durch die Fülle der Veränderungen überlastet. Der Abschied von liebgewordenen Besitzständen fällt schwer. Wirtschaft und Gesellschaft müssen dringend modernisiert werden. Aber es fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Es geht nur mit quälender Langsamkeit voran. Deutschland tut so, als gäbe zur Erneuerung beliebig viel Zeit. Das Land braucht einen Ruck.
Dies könnte eine Zusammenfassung der deutschen Klimadebatte im Jahr 2023 sein. Indes stammt diese Lagebeschreibung nicht aus dem September 2023, sondern aus dem April 1997. Es sind Zitate aus der Ruckrede von Bundespräsident Roman Herzog.
Kann die Rede helfen, neuen Schwung in die zurzeit festgefahrene Debatte zu bringen? Einerseits nein. Ihre Themen – hohe Arbeitslosigkeit und schwache wirtschaftliche Dynamik – sind andere. Die Rede wurde in einer anderen Zeit gehalten. Geschichte wiederholt sich nicht. Was wie ein Déjà-vu wirkt, ist oft nur eine trügerische Erinnerung. Aber anderseits enthält die Rede erkennbare Parallelen zur Klimadebatte – Reformstau, Modernisierungsängste und Verzagtheit. Sie beinhaltet Anregungen, die helfen können, Bremsen in der Klimadebatte zu lösen.
Besitzstandschutz und Veränderungsängste in Gesellschaft, Wirtschaft, und Politik sind starke Bremsen. Im Allgemeinen gibt es viel Unterstützung für Klimapolitik, aber diese schmilzt, sobald Maßnahmen konkret werden. Klimaschutz ist gut, aber für viele sollte eigentlich alles mehr oder weniger beim Alten bleiben. Mehrheiten lehnen das Ende des Verbrennermotors ab. Der Einbau neuer Öl- und Gasheizungen wird mit Verve verteidigt. Diese Beharrungskräfte gibt es in der gesamten Gesellschaft, aber sie sind besonders stark rechts von der Mitte. In diesem Teil des politischen Spektrums sollte die Stimme von Roman Herzog, einem Konservativen, Gewicht haben.
Wie eine zweite Bremse wirkt das Mantra, dass nur mit Marktwirtschaft Klimaschutz funktioniere. Allein der Emissionshandel könne Klimaschutz auf effiziente Weise leisten. Andere Maßnahmen seien dagegen weitgehend überflüssig. Sie sind teureres und bürokratisches Ordnungsrecht. Dieses behindere kostengünstige Reduktionen, schränke unternehmerische Freiheit ein und behindere Innovation. Auch diese Argumentation kommt vor allem aus dem konservativen Lager.
„Emissionshandel only“ verschweigt oft die Konsequenzen
Was in der politischen Debatte lautstark als die Alternative für effektiven und effizienten Klimaschutz dargestellt wird, geht in ein undeutliches Gemurmel über, wenn es konkret wird. Der Vorschlag Emissionshandel only schweigt darüber, welche Emissionsmengen in diesem System wären. Um einen Beitrag zur Erreichung der Temperaturziele des Pariser Abkommens zu leisten, müssen diese aber sehr gering sein, was zur Folge hätte, dass Kohlenstoffpreise sehr hoch ausfallen – mit erheblichen sozialen Auswirkungen. Diese zentralen Punkte werden kaum thematisiert. Es wird auch nicht gesagt, was passiert, wenn Preise bestimmte Schwellen überschreiten. Der Emissionshandel ist eine Säule der Klimapolitik, aber so entsteht eine politische Scheindebatte, die die eigentliche Problemlösung bremst.
Eine dritte Bremse betrifft einen vermeintlichen Gegensatz zwischen Politik und Individuum. Das Individuum allein könne wenig bewirken, nur die Politik. Es gehe nicht um Lebensstile, sondern um den rechtlichen und politischen Rahmen. Verzicht bewirke nichts. Die Politik dürfe zudem nicht in das Leben der Menschen hineinregieren. Es müsse Bereiche der persönlichen Lebensführung geben, die von der Klimapolitik ausgenommen sind. Die Grundrechte verbieten demnach Klimaschutz, der den Menschen vorschreibe, wie sie zu leben haben.
Es besteht kein Zweifel, dass ohne einen guten politischen Rahmen der Weg zu Klimaneutralität nicht gelingen kann. Aber ebenso ist es praktisch nicht möglich, die erforderlichen Emissionsreduktionen in sehr kurzen Zeiträumen ohne Änderungen im Alltag zu erreichen. Klimaneutralität kann nicht unbemerkt daherkommen. Zudem muss gesehen werden, dass Rahmenbedingungen nicht vom Himmel fallen. Sie sind das Ergebnis von Mehrheiten, die sich nicht nur an der Wahlurne artikulieren, sondern auch darin, wie sich Menschen im Alltag verhalten.
Des Weiteren muss in dieser Debatte berücksichtigt werden, dass Grundrechte in verschiedene Richtung wirken. Sie wirken nicht nur als Schutz vor unverhältnismäßigen Eingriffen in Eigentum, Beruf, Handlungsfreiheit oder anderen Bereichen der persönlichen Lebensführung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützen sie auch vor den grundrechtsbeschränkenden Folgen des Klimawandels. Als intertemporale Freiheitsrechte schützen sie zudem kommende Generationen.
Eine weitere Bremse ist die Behauptung, Klimaschutz würde zu einem Superwert, der alle anderen Interessen übertrumpfe. Klimaschutz werde vor die Klammer des politischen Interessensausgleichs gezogen. Dies ist eine weitere Scheindebatte. Die Abwägung unterschiedlicher Interessen und Güter ist klimapolitischer Alltag. Selbst Gruppen wie die Letzte Generation wägen ab. Sie fordern die Beendigung der Nutzung fossiler Rohstoffe nicht sofort, sondern ab 2030.
Wer zügigen Klimaschutz stoppen will, muss die Verfassung ändern
Wer sich an der Ausrichtung der Debatte an den gesetzlich geltenden Reduktionzielen und den Temperaturzielen des Pariser Abkommens stört, muss das sagen. Es muss dann aber auch berücksichtigt werden, dass schwacher Klimaschutz zulasten kommender Generation nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig ist. Eine Interessensabwägung, die unvereinbar mit dem Grundgesetz ist, ist nicht möglich. Wer sie will, muss die Verfassung ändern.
Eine fünfte Bremse betrifft die Qualität der Debatte. Bisher hatte Deutschland eine relativ gute klimapolitische Debatte, aber sie wird rauer. „Klimaleugner“ oder „Populist“ sind Beispiele für spaltende Sprache wie auch „Klimakleber“ oder „Energiestasi“. Die Debatte leidet auch an einer teilweisen unverständlichen Sprache. Nach der Umfrage von More in Common finden nur 28 Prozent der Befragten, dass die Klimabewegung eine „verständliche Sprache“ spreche. 2021 waren dies noch 65 Prozent. Citizenwashing, große Transformation oder atmosphärischer Kolonialismus sind Beispiele für eine akademische und entrückte Sprache.
Für neuen Schwung braucht die Klimapolitik
offensichtlich mehr als die Rede eines Bundespräsidenten. Die meisten
Interessengegensätze sind real. Sie sind nicht nur eine Frage der
Debattenkultur. Aber die zentralen Punkte von Roman Herzog – Reformbereitschaft,
Gestaltungswille und Mut – würden der Debatte helfen und können inspirieren,
gerade Konservative. Zudem: Visionen erscheinen oft erst nach ihrer Realisierung möglich. Die Vision der Ruckrede
– eine Halbierung der Arbeitslosigkeit oder gar Vollbeschäftigung – erschien
1997 gewagt, ist aber inzwischen Realität. Bei der Klimaneutralität muss
es auch so werden.