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Energie & Klima

Standpunkte „Efficiency first“ war gestern

Stephan Breidenbach, GermanZero
Stephan Breidenbach, GermanZero

Direkte Stromnutzung und Energiesparen sind keine geeigneten Leitprinzipien der Energiewende – sie stehen sogar im Weg, meinen die vier Autoren Alexander Voigt, Simon Schäfer-Stradowsky, Ove Petersen und Stephan Breidenbach. Sie haben sechs teils kontroverse Thesen für eine effektive Energiewende verfasst.

von Stephan Breidenbach

veröffentlicht am 12.05.2022

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Der Krieg in der Ukraine und weitere geopolitische Krisen führen vehement vor Augen, dass die Herstellung einer wirklichen Souveränität und Nachhaltigkeit in Energiefragen unabdingbar ist. Es geht darum, eine sichere und klimaneutrale Energieversorgung zu bezahlbaren Preisen zu garantieren und sicherzustellen, dass dies mit unseren politischen und ökonomischen Interessen im Einklang bleibt. Dabei gilt es, die Begrenzung der Erderwärmung um maximal 1,5 Grad konsequenter denn je weiterzuverfolgen. Deswegen brauchen wir ab jetzt volles Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien und der zugehörigen Industrien. 

75 Prozent grüne Primärenergie aus Europa

Die Wiederherstellung unserer Energiesouveränität erfordert einen massiven und maximal beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien. Künftig sollten mindestens 75 Prozent unseres Energiebedarfs als Solar- und Windenergie sowie Geothermie, Wasserkraft und Biomasse aus Europa gedeckt werden. Die restlichen 25 Prozent werden aus Drittländern wie der Ukraine und außerhalb Europas importiert werden. Das Erreichen dieses 75-Prozent-Ziels erlaubt es uns, unsere Energiesouveränität zu sichern und unsere Klimaziele zu erreichen. Aktuell sind rund 14 Prozent der Fläche Deutschlands besiedelt – die Nutzung der Hälfte dieser Flächen würde schon genügen, um das 75-Prozent-Ziel zu erreichen. 

Wir müssen die Schlüsselindustrien, die für den Ausbau erneuerbarer Energien benötigt werden, massiv ausbauen und wieder in Deutschland beziehungsweise in Europa ansiedeln. PV-Industrie, Windindustrie, rohstoffverarbeitende Industrien müssen mit der gesamten Wertschöpfungskette in Deutschland und Europa angesiedelt werden. Das sorgt für stabile Preise in robusten Lieferketten und ist damit eine der wichtigsten Grundlagen für ein resilientes Energiesystem sowie für eine Gesamtwirtschaft, die unempfindlicher gegenüber globalen Krisen und Störungen wird.

In Deutschland und Europa wurden die ersten Fertigungen im industriellen Maßstab für Solarmodule, Solarzellen, Windräder und deren Komponenten aufgebaut. 25 Jahre später ist die Solarindustrie weitestgehend aus Europa verschwunden; über 90 Prozent der industriellen Kapazität ist in China konzentriert. Es muss politisches Ziel sein, die vollständige Wertschöpfungskette der Erneuerbaren zurück nach Deutschland und Europa zu bringen – vom Silizium, der Solarzelle über den Wechselrichter bis zur Wartung und Betriebsführung von Solaranlagen; von der Stahlerzeugung über die Komponenten-, Generatoren- und Rotorblattfertigung bis zur Logistik rund um den Bau und Betrieb eines Windrads. 

 „Efficiency first“ war gestern

Ab jetzt zählen System-Effektivität, Innovationsgeist und Technologiefreundlichkeit als Grundlagen der Sektorenkopplung in einem System von Erneuerbaren. Doch nach wie vor gelten „efficiency first“ und „all electric“ als zentrale Leitprinzipien der Energiepolitik in Deutschland. Die Direktnutzung von Strom hat Vorrang vor Speicherung und Umwandlung. Energiesparen gilt Einigen als Königsweg zu weniger Importabhängigkeit und zu einem geringen Ausbaubedarf. Aber der Plan, jede Kilowattstunde erzeugten EE-Stroms direkt zu nutzen, wird ein Traum bleiben. Denn Strom-Verteilnetze müssen modernisiert und ausgebaut werden. Die geplanten zusätzlichen Übertragungstrassen sind notwendig, reichen jedoch bei weitem nicht im Verhältnis zu den Ausbauzielen der erneuerbaren Stromerzeugung. Die „Kupferplatte“ bleibt eine Fata Morgana der Befürworter von „all electric“. 

Ein vollständig erneuerbares Energiesystem braucht ein Nebeneinander von direkter und indirekter Stromnutzung. Effizienz und Effektivität müssen gleichberechtigte Ziele für unsere Energiesouveränität werden. Der grüne Strom muss in Zeiten, wenn Sonne und Wind in Hülle und Fülle verfügbar sind, vollständig „geerntet“, in speicherbare Gase wie Wasserstoff oder in Wärme umgewandelt und dann verfügbar gemacht werden, wenn es an Erneuerbaren mangelt.

Dieses Prinzip der Sektorenkopplung ermöglicht eine kostengünstige, klimaneutrale Energieversorgung rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr. Zur Realisierung eines solchen vollständig erneuerbaren Energiesystems hat GermanZero einen Vorschlag für ein komplett neues Energiegesetzbuch (EnGB) vorgelegt. Die Technologien, die dies möglich machen, sind entwickelt, marktreif und in industriellen Größenordnungen verfügbar. 

Für fossile Energien galt „efficiency first“. Heute ignoriert dies die enormen Potenziale der grünen Energieerzeugung in Deutschland und Europa. Direkte Stromnutzung und Energiesparen sind keine geeigneten Leitprinzipien der Energiewende. Sie stehen im Weg. Durch „efficiency first“ werden nur noch die an der Energiewende teilhaben können, die es sich finanziell leisten können. Das ist egoistisches Wohlstandsdenken. Es birgt das Risiko einer sozialen Spaltung und damit auch einer mangelnden weltweiten Akzeptanz der Energiewende. 

Von Genehmigungs- zu Ermöglichungsverfahren, von Akzeptanz zur Partizipation

Die Ereignisse der letzten Wochen, in Europa, aber auch der letzten Jahrzehnte weltweit, erfordern konsequentes Handeln. Eine echte, mittel- und langfristig orientierte Strategie muss auf einen schnellstmöglichen vollständigen Ausstieg aus fossilen Energieträgern setzen. Dies wird durch den maximal beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland und Europa, die Schaffung kluger und investitionsfreundlicher Rahmenbedingungen für Sektorenkopplungstechnologien und den Ersatz von langwierigen Genehmigungsverfahren durch pragmatische Ermöglichungsverfahren gelingen. Die Kosten- und Wettbewerbsvorteile, die die deutsche Wirtschaft durch die Umsetzung einer solchen Strategie mittel- und langfristig haben wird, sind erheblich.

Dieser Text ist eine erheblich gekürzte Fassung eines Energiewende-Manifests der vier Autoren, das in den vergangenen Tagen an mehrere Mitglieder von unterschiedlichen Landesregierungen und der Bundesregierung versandt wurde. 

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