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Energie & Klima

Standpunkte Energiewende im Turbogang

Jutta Paulus, Europaabgeordnete der Grünen
Jutta Paulus, Europaabgeordnete der Grünen Foto: EU-Parlament

Mit Einsparungen, Erneuerbaren und Diversifizierung gegen die Abhängigkeit von Russland – das ist das Ziel des am Mittwoch vorgestellten Repower EU-Plans. Die Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament, Jutta Paulus, lässt die Maßnahmen Revue passieren und ordnet sie ein.

von Jutta Paulus

veröffentlicht am 20.05.2022

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Als Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine schaltet Europa den energiepolitischen Turbo zu. Mit kurz- und mittelfristigen Maßnahmen soll bis 2027 Unabhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen erreicht und die Energiewende entscheidend vorangebracht werden.

Bereits im März war das Paket „Repower EU“ angekündigt worden; seinerzeit noch mit dem Fokus auf alternativen Lieferanten. Jetzt werden richtigerweise auch höhere Ziele für Energieeffizienz und erneuerbare Energien vorgeschlagen. Doch leider bleibt eine Hintertür für die Finanzierung neuer fossiler Energieinfrastruktur offen.

Seit März konnte die Europäische Union die russischen Gasimporte bereits um ein Drittel verringern und strebt bis Jahresende eine Reduktion um zwei Drittel an. Für die vollständige Unabhängigkeit von russischem Gas werden mit Repower EU 300 Milliarden Euro mobilisiert, die größtenteils für die Beschleunigung der Energiewende eingeplant sind, doch auch der Bau von Gaspipelines und LNG-Terminals soll mit zehn Milliarden unterstützt werden. Um die Ölimporte durch russische Pipelines zu ersetzen, sollen zudem zwei Milliarden Euro in neue Ölinfrastruktur fließen. 

Save, Switch, Search

Es wäre der falsche Weg, wenn jeder Mitgliedstaat in blindem Aktionismus Milliarden Steuergelder für langlebige fossile Infrastruktur ausgeben würde. Sinnvoll ist stattdessen eine robuste Bedarfsanalyse mit einem Dreistufenverfahren: Das Hauptaugenmerk muss auf Energieeffizienz liegen, denn Investitionen zur effizienteren Energienutzung senken den Bedarf dauerhaft, entlasten Industrie, Gewerbe und Haushalte gerade in Zeiten hoher Energiepreise und unterstützen unsere Klimaziele.

Der Umstieg auf erneuerbare Energien sorgt nicht nur für Klimaschutz, Energie-Unabhängigkeit und kalkulierbare Strompreise, sondern auch für bessere Luftqualität und weniger Nitratbelastung von Böden und Wasser. Die Suche nach kurzfristigen Alternativen, wie Importe aus Drittstaaten oder neue Pipelines und Terminals, sollte auf das Notwendigste beschränkt werden. 

Efficiency First

Energieeinsparungen sind die schnellste Maßnahme, die Gas- und Stromrechnungen zu senken. Folgerichtig erhöht die Europäische Kommission ihren Vorschlag für das EU-Effizienzziel 2030 von neun auf 13 Prozent. Das ist ein wichtiges Signal für die gerade laufenden parlamentarischen Verhandlungen zur neuen EU-Energieeffizienzrichtlinie. 

Unabhängige Experten haben sogar ein Potential von 19 bis 23 Prozent errechnet. Deshalb werde ich in den Verhandlungen weiter für ein höheres Ziel kämpfen. Mit Sofortprogrammen zum hydraulischen Abgleich von Heizungen, zur Isolierung von Dachböden und zum Austausch alter Fenster ließen sich schnell weitere substanzielle Einsparungen erzielen.

Gerade der Verkehrssektor weist sehr viel Potenzial für die Verringerung des Energiebedarfs auf. Hier schlägt die Kommission zwar eine Senkung der Tempolimits vor, die Umsetzung liegt jedoch bei den Mitgliedstaaten. Die Kommission setzt zudem auf Elektrifizierung und fossilfreien Wasserstoff und möchte im nächsten Jahr ein Paket für grünen Frachtverkehr vorstellen, das auf dem Grundsatz der Energieeffizienz beruht. 

Sonnige Zeiten für Europa

Die Europäische Kommission erhöht das Ausbauziel für erneuerbare Energien von 40 auf 45 Prozent bis 2030 und will mit der neu vorgestellten EU-Solarstrategie die installierte Solarenergie bis 2025 verdoppeln und bis 2030 auf 600 Gigawatt steigern.

Der Vorschlag zur EU-Gebäudeenergie-Richtlinie wird durch eine Solarpflicht für Dächer ergänzt. Bis 2025 sollen auf Dächern neuer öffentlicher und gewerblicher Gebäude Photovoltaik oder Solarthermie installiert werden, ab 2029 werden auch Wohngebäude einbezogen.

Nachdem europäische Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, in der Vergangenheit durch politische Fehlentscheidungen den Abzug der heimischen Solarindustrie nach Asien billigend in Kauf nahmen, soll eine europäische Produktion durch „Projekte Gemeinsamen Interesses“ angekurbelt werden, um die bestehende Abhängigkeit zu beenden. Auch dem Fachkräftemangel soll durch ein neues EU-Programm begegnet werden. 

Ambitionierte Ausbauziele nützen jedoch nichts, wenn die nötigen Zulassungsverfahren für Windkraftwerke bis zu neun Jahre und für Solarprojekte bis zu vier Jahre dauern.  Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass es in der Europäischen Union nicht am Willen für einen flächendeckenden Ausbau von erneuerbaren Energien mangelt, sondern an klaren Vorgaben und effizienten Verwaltungsstrukturen.

Die Kommission nimmt unsere Forderung nach europäischen Leitlinien für Zulassungsverfahren endlich auf und erklärt die Energiesouveränität zum übergeordneten öffentlichen Interesse. In durch die Mitgliedstaaten auszuweisenden Vorranggebieten sollen Zulassungsverfahren auf maximal ein Jahr begrenzt werden.

Allerdings will die Kommission hier das Kind mit dem Bade ausschütten und Umweltverträglichkeitsprüfungen in diesen Gebieten aussetzen. Nur Vogelschutz- und Fauna-Flora-Habitat-Gebiete sollen ausgeschlossen bleiben. Dieses Vorgehen ist nicht nur fachlich falsch und rechtlich fragwürdig, sondern gefährdet auch die Akzeptanz.

Zudem bedient die Kommission ohne Not das Narrativ, die Energiewende würde allein durch Natur- und Artenschutz behindert. Dabei werden durch überzogene Abstandsregeln zu Drehfunkfeuern oder militärischen Anlagen weit mehr Windparks verhindert als durch den Artenschutz. Zudem wäre es schön, wenn sich die Europäische Kommission an die eigene Nase fassen und ihre wettbewerbsrechtlichen Prüfungen beschleunigen würde. Hier muss die Kommission schnellstmöglich einen Vorschlag machen, der mit dem neuen Grundsatz des übergeordneten öffentlichen Interesses im Einklang steht. 

Eine Hintertür für Atomkraft 

Unverständlicherweise weist die Kommission Wasserstoff aus Atomkraft eine künftige Rolle zu. Abgesehen von den bekannten Gefahren der Atomkraft ist es wenig sinnvoll, auf eine Technologie zu setzen, bei der Europa nicht nur vom Import russischen Urans abhängig ist, sondern auch für den technischen Betrieb der Anlagen in Zentral- und Osteuropa sowie für die Abnahme des abgereicherten Urans auf Russland angewiesen ist. 

Energiesouveränität wird es nur mit 100 Prozent erneuerbaren Energien, unterstützt durch konsequente Anwendung des Prinzips „Energieeffizienz zuerst!“ geben. Mit Repower EU liefert die Europäische Kommission eine ambitionierte Strategie, die für weitergehende Maßnahmen genutzt werden kann. Auch wenn der Fokus derzeit auf der Unabhängigkeit von russischen Energieimporten liegt, sollten wir nicht vergessen, dass die Erderhitzung ungebremst voranschreitet und unser aller Sicherheit und Wohlstand gefährdet.

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