Lützerath ist zum deutschen Symbol für den Kampf gegen die Klimakrise geworden. Das Dorf im Rheinischen Braunkohlerevier steht nun im Fokus der energie- und klimapolitischen Debatte. Sowohl die Landes- als auch die Bundesregierung unterstützen den Energiekonzern RWE bei der Zerstörung des Dorfes, um den Tagebau Garzweiler fortzuführen. Dies wird mit der angeblichen energiewirtschaftlichen Notwendigkeit der Ausbeutung der unter dem Dorf befindlichen Kohle begründet. Diese Notwendigkeit wird von verschiedenen Studien allerdings unterschiedlich bewertet.
Im Folgenden möchte ich die komplexe Gemengelage der Studien erklären und sachlich einordnen. Primär geht es um drei verschiedene Abschätzungen: Erstens: Wie viel Kohle ist im Tagebau Garzweiler noch förderbar, wenn das Dorf Lützerath nicht zerstört werden soll? Zweitens: Wie viel Kohle aus diesem Tagebau wird bis 2030 noch für die Verstromung beziehungsweise – drittens – für die Veredelung benötigt?
Die erste Frage wurde in mehreren Studien von FossilExit untersucht, einer Forschungsgruppe an der Europa-Universität Flensburg, TU Berlin und DIW Berlin. Basierend auf diesen Vorschlägen und im Auftrag von RWE hat das Unternehmen Mining Technology Consulting (MTC) verschiedene Tagebauvarianten analysiert.
Das Szenario mit der höchsten Fördermenge bei Erhalt von Lützerath berechnet einen Vorrat von 170 Millionen Tonnen (Mt.) Kohle. Hierbei wird Lützerath jedoch in einer Halbinsellage ausgespart, weshalb das Gutachten schlussfolgert, dass die Standsicherheit unter Umständen zukünftig nicht gegeben sein könnte. Bei Verzicht auf die Fläche zwischen Keyenberg und Lützerath (die sogenannte nördliche Bucht) reduziert sich die Kohlemenge um 10 Mt. auf insgesamt 160 Mt. Hierbei ist noch nicht berücksichtigt, dass bei der Renaturierung noch zusätzliche Kohle gewonnen werden kann. RWE hatte angekündigt, damit einen möglichen Reservebetrieb von 2030 bis 33 zu versorgen.
Fragwürdig hoher Bedarf in der BET-Studie
Die Kohlenachfrage für die Verstromung wurde sowohl vom Büro für Energiewirtschaft und Technische Planung (BET) im Auftrag der Landesregierung als auch in Studien von Aurora Energy Research und FossilExit unabhängig voneinander berechnet. BET analysiert drei, Aurora zwei Nachfrageszenarien, wodurch sich unterschiedliche Spannbreiten der zukünftigen Nachfrage ergeben: BET schätzt die Nachfrage aus dem Tagebau Garzweiler auf 132-183, Aurora auf 116-124 und FossilExit in der aktuellsten Studie auf 120 Mt. Kohle.
Die Differenzen basieren auf Annahmen zur Auslastung der Kohlekraftwerke: So weist Aurel Wünsch vom Analysehaus Prognos auf Twitter darauf hin, dass das „Elektronen“-Szenario von BET mit 630 Terawattstunden (TWh) Strombedarf im Jahr 2023 von einem Wert ausgeht, der deutlich über dem Bedarfen der letzten Jahre (2021: 584; 2022: 577 TWh) liegt. Dieser höhere Strombedarf wird insbesondere durch Braunkohlekraftwerke gedeckt. Im Gegenzug dazu scheint die Auslastung der Steinkohlekraftwerke bei BET unterschätzt zu sein.
Die Veredelung umfasst sowohl die Produktion von Briketts als auch die Verwendung von Braunkohlestaub und wurde in den Studien von BET und FossilExit betrachtet. BET beziffert den Gesamtbedarf auf 55 Mt., während FossilExit 41 Mt. Kohle ausweist. BET verweist darauf, dass „keine detaillierten branchenspezifischen Analysen zur Ermittlung der künftigen Veredelungsmengen durchgeführt werden. Daher handelt es sich hier um eine grobe Abschätzung“.
Aurel Wünsch von Prognos schätzt die BET Annahmen von neun Mt. in 2022 und den konstant hohen Verbrauch von acht Mt. bis 2025 als sehr hoch ein (2021: acht Mt.), und taxiert den Gesamtbedarf auf 41 Mt. Sowohl FossilExit als auch Wünsch stützen diese Reduktion auf die Stilllegung der letzten Brikettfabrik in Frechen Ende 2022 (jährlicher Verbrauch zwei Mt.), sowie einen anteiligen Ersatz von Braunkohlestaub. Denn Braunkohleprodukte sind ab 2023 vom Brennstoffemissionshandelsgesetz betroffen und leicht durch vorhandene klimafreundlichere Alternativen zu ersetzen.
Viele Möglichkeiten den Kohlebedarf zu senken
Unter Ausschluss von veralteten Annahmen umfasst also der Kohlevorrat und der Bedarf aus dem Tagebau Garzweiler ungefähr 160 Mt. Kohle mit einer Unsicherheitsspanne von etwa zehn Mt. Es ist somit möglich, die Tagebauplanung anzupassen und das Dorf Lützerath zu erhalten. Im Laufe der nächsten Jahre kann dann besser abgeschätzt werden, ob im Tagebau sogar noch weitere Kohlemengen verbleiben, oder ob RWE noch mehr Kohle verbrennen könnte.
Bei Bedarf könnte die Kohlenachfrage aber noch weiter reduziert werden. Dies könnte gelingen unter anderem durch: Energieeinsparungen, Reduktion der Kohleveredelung, Verlagerung der Braunkohlestromerzeugung in den benachbarten Tagebaukomplex Inden/Weisweiler sowie Ersatz von Braunkohlestrom durch CO2-ärmere Energieträger wie Erneuerbare, Gas, Steinkohle oder Stromimporte. Argumentationslinien von sonst nicht ausreichenden Kohlemengen gab es in den letzten Jahren bereits bei den Diskussionen zum Hambacher Wald und den anderen Garzweiler Dörfern – und wurden im Laufe der Zeit alle widerlegt.
Vieles deutet also darauf hin, dass es nicht um zwingende Notwendigkeiten geht, sondern um eine unternehmerische Abwägung. Bei aktuellen Strompreisen ist es möglich, die Kohle unter Lützerath gewinnbringend zu verstromen. RWE will, so ist anzunehmen, Lützerath abbaggern, weil es die günstigste betriebswirtschaftliche Variante ist.
Denn der Kohleflöz unter Lützerath ist relativ mächtig und Anpassungen der Tagebauführung für eine Auskohlung eines südlichen Teilfeldes verursachen dem Betreiber Kosten. Stattdessen aber mit Abraummengen für die Verfüllung alter Gruben zu argumentieren ist nicht tragfähig: Einerseits sind landwirtschaftliche Böden in dieser Wertigkeit in der Renaturierung nicht wiederherzustellen, andererseits gibt es Gutachten über eine ökologisch sinnvollere Lösung ohne Verfüllung des Restlochs am Tagebau Garzweiler I. Zudem berücksichtigen die aktuellen Renaturierungspläne inklusive der Pläne für Restseen nicht ausreichend die vorhandene Wasserknappheit.
Keine energiewirtschaftliche Notwendigkeit
Über die Betriebswirtschaft hinaus: Ist die Kohle unter Lützerath energiewirtschaftlich notwendig, weil sonst ein Blackout droht? Zu keinem Zeitpunkt. In Summe betragen die volkswirtschaftlichen Kosten für unsere Gesellschaft durch die Verbrennung der Kohle, die zu zusätzlichen Klimaschäden in Deutschland und weltweit führt, ein Vielfaches der RWE-Gewinne. Es ist daher an der Politik, durch entsprechende Eingriffe gesamtgesellschaftliche Schäden abzuwenden.
Ähnlich wie damals bei der gescheiterten Räumung vom Hambacher Wald schaut zudem die internationale Presse, Öffentlichkeit und Politik auf die deutschen Entscheidungen über Lützerath. Die Welt sieht eine meist junge Klimagerechtigkeitsbewegung, die im Schulterschluss mit der Grünen Jugend und Oppositionsparteien das Pariser Klimaschutzziel gegen die grüne Landes- und Bundespolitik verteidigen muss, die ihrerseits aus 14 Bundesländern Hundertschaften von Polizist:innen zur Räumung auffährt.
Wenn die deutsche Klimapolitik nicht den eigenen Ruf noch mehr schädigen will, wäre sie daher gut beraten, ein Räumungsmoratorium zu verhängen und stattdessen einen transparenten Dialogprozess mit allen Betroffenen zu starten. Dieser sollte zum Ziel haben einen beschleunigten Ausstiegsplan zu entwerfen, der Klimaschutzziele einhält, Renaturierungspläne anpasst und einen nachhaltigen Strukturwandel sowie Planungssicherheit für alle Menschen vor Ort aktiv gestaltet.
Dr. Pao-Yu Oei ist Professor für „Nachhaltige Energiewende Ökonomie“ an der Europa-Universität Flensburg. Er ist zudem Gastwissenschaftler am Forschungsinstitut DIW Berlin und der TU Berlin und leitet die Forschungsgruppe FossilExit.