Klimaneutralität bis 2045. Oder früher. Das ist die Messlatte, die einen bisher undenkbaren, parteiübergreifenden Willen zum beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien in greifbare Nähe rücken lässt. Damit steigen bereits vor der Bundestagswahl die Chancen auf einen Ruck in der Energiepolitik. Relativ wenig hört man aber über den Wärmebereich, der den Zielen zufolge ebenso in weniger als 24 Jahren gänzlich ohne fossile Energien auskommen soll. Dabei entsteht aus dem Zusammenspiel von Gebäuden und dem Energiesystem ein wichtiger Treiber für die allseits geforderte Sektorkopplung. Denn die klimafreundliche Versorgung wird aufgrund der dezentralen Logik erneuerbarer Energien immer mehr vor Ort organisiert werden müssen. Damit auch diese Entfesselung gelingt, muss die Politik sich neue Leitlinien geben.
Eine dezentrale Logik ermöglicht lokale Versorgungsstrukturen
Aber worum geht es? Unser bisheriges Energiesystem setzte in der Vergangenheit vor allem auf die internationale und nationale Vernetzung von Angebot und Nachfrage. Strom, Öl und Gas fanden bislang fast ausschließlich über die Strom- und Gasnetze sowie Tankstellen ihren Weg zu den Verbrauchern. Die Vor-Ort-Ebene war auf diese Weise im konventionellen Energiesystem vor allem durch passive Endkunden geprägt. Das ändert sich. Die lokalen Versorgungsstrukturen, die mehr und mehr auf Strom basieren, werden aus einer technologisch-wirtschaftlichen Logik heraus zum wichtigen Bestandteil des Energiesystems.
Augenscheinlich wird dies, wenn man sich die Energieversorgung eines typischen Mehrfamilienhauses oder kleinen Quartiers ansieht. Auf dem Dach und an der Fassade dieses Gebäudes kann mit Photovoltaikkraftwerken Strom produziert werden. Mit Wärmepumpen wird die nötige Wärme erzeugt, im lokalen Speicher werden Fluktuationen gepuffert und an den Ladestationen in der Garage tanken die Fahrzeuge ihren erneuerbaren Sprit. Technisch und wirtschaftlich ist dies heute ohne weiteres darstellbar. Problematisch ist die Umsetzung allerdings aufgrund all der Vorgaben, die der Gesetzgeber mit auf den Weg gibt.
Komponentenorientierte Überregulierung verhindert Innovation
Die regulatorischen Rahmenbedingungen im Energiemarkt stammen Großteils aus einer anderen Zeit. Sie haben sich über die Jahre organisch mit den neuen technischen Möglichkeiten weiterentwickelt. So wurden mit der fortschreitenden Energiewende komponentenweise neue Einzelanreize und Regelungen gesetzlich verankert. Mehr und mehr wird das aber zum Problem. Denn für den Einsatz jeder Komponente – von der PV-Anlage über die Speicher, Ladestationen und BHKWs bis hin zur Regelung der Stromlieferung – greift ein jeweils eigenes Regelwerk.
Die entstandene rechtliche Komplexität für Planer und Investoren ist so oft kaum noch beherrschbar. Oft fehlt schlichtweg die Rechtsklarkeit, was Investitionsentscheidungen hemmt. Hinzu kommen umfangreiche bauliche Auflagen und Standards, die nicht immer kohärent sind mit den Zielen der Energiepolitik. Im Ergebnis verteuert, verzögert und verhindert der aktuelle Rechtsrahmen oft sinnvolle Systemauslegungen und -betriebsweisen.
Die lokale Versorgung in den Blick nehmen
Um das zu überwinden, braucht es einen radikalen Schritt. Wir müssen weg von der komponentenorientierten Überregulierung und hin zu einem systemorientierten Ordnungsrahmen. Der Gesetzgeber sollte die Vor-Ort-Versorgung als Ganzes in den Blick nehmen und sich bei der Regulierung auf die Schnittstelle zwischen dem Gebäude beziehungsweise Quartier und dem Stromnetz konzentrieren. An diesem Übergabepunkt werden Kilowattstunden digital für jeden Zeitpunkt gemessen und deren Fluss so reguliert. Was vor dem Zähler passiert, sollte dem Energiemanagement des Gebäudes überlassen werden. Die richtige und auf die lokalen Bedarfe abgestimmte Kombination der Energietechnologien kann vor Ort erfolgen. Was auf lokaler Ebene besser geplant, entschieden und gemanagt werden kann, wird so auf lokaler Ebene geplant und entschieden.
Klimaneutralität braucht Sektorenkopplung braucht erneuerbaren Strom
Warum das Sinn macht? Der Weg zur Klimaneutralität und die damit einhergehende Sektorenkopplung werden die zwei großen Aufgaben der nächsten Legislaturperiode. Insbesondere die Wärmewende und Mobilitätswende müssen deutlich beschleunigt werden, um die Pariser Klimaschutzziele noch erreichen zu können. Und gerade in den Gebäuden ist das Potenzial für die Dekarbonisierung immens. Allein der Wärmesektor ist heute für rund 50 Prozent des Endenergieverbrauchs in Deutschland verantwortlich. Heizungen laufen heute noch immer weitestgehend auf fossiler Basis. Der Verkehrssektor liegt in punkto Dekarbonisierung, wie allseits bekannt, sogar noch weiter zurück.
Wer CO2-Einsparungen schaffen will, muss also Anreize setzen, dass der Einsatz erneuerbarer Energien vor Ort vorankommt. Die zur Lösung nötige Sektorenkopplung bedeutet aber auch, dass der Endenergieverbrauch zukünftig vor allem mit Strom abgedeckt wird. Die nötigen zusätzlichen Strommengen, um den zukünftigen Bedarf von 1000 bis zu über 1500 Terawattstunden zu decken, werden jedoch nur zum Teil über Netzstrom bereitgestellt werden können. Rund ein Drittel des Strombedarfs kann und muss bereits vor Ort durch die Kopplung von Erzeugung und Verbrauch gedeckt werden.
Um nichts weniger geht es bei der Vor-Ort-Versorgung. Hier werden Kilowattstunden lokal erzeugt, gespeichert und beispielsweise für Licht, Mobilität und Wärme verbraucht. Zusätzliche Bedarfe stellt das Netz bereit, Überschüsse können eingespeist werden. Jeweilige Engpässe werden aber – anders als heute – entsprechend bepreist, sodass jederzeit der Anreiz besteht, sich bereits vor Ort netzdienlich zu optimieren.
Damit dies gelingen kann, braucht es mehr Innovation und Dynamik für klimaneutrale Gebäude. Nur klare Gestaltungsspielräume vor Ort können dafür sorgen, dass eine erneuerbare, sektorengekoppelte, systemverantwortliche Energieversorgung vor Ort möglich wird, bei der jedes Gebäude, jede Gewerbeliegenschaft und jedes Quartier zum Teil eines stabilen, sicheren und kostengünstigen Gesamtsystems wird. Das derzeitige Regelungswerk verhindert diese Entwicklung jedoch bislang mit seiner erschlagenden Komplexität.
Es braucht ein Bekenntnis zur Subsidiarität im Energiesystem. Um diesen Knoten zu lösen, reicht es nicht aus, kleine gesetzliche Anpassungen vorzunehmen. Die Aufgabe, die Vor-Ort-Versorgung dauerhaft zu etablieren und die Potenziale der lokalen Energiewende zu entfesseln, ist ein Prozess. Und genau diesen Prozess gilt es nun nach der Wahl einzuleiten. Zuallererst braucht es dafür ein klares Bekenntnis des neugewählten Gesetzgebers, das Subsidiarität als neues Grundprinzip des Energiemarktdesigns anerkennt und explizit vorsieht. Im zweiten Schritt muss sich dann jede energiepolitische Reform daran messen lassen, ob sie dazu beiträgt, das regulatorische Geflecht der lokalen Energieversorgung zielgerichtet zu entschlacken, um so die Innovationspotenziale für klimafreundliche Lösungen zu heben.
Beides, also das Ziel, die Vor-Ort-Versorgung als Teil des Energiesystems zu etablieren und die Ankündigung von Maßnahmen, um dies zu ermöglichen, sollte im Herbst im Koalitionsvertrag verankert werden.
Der Standpunkt basiert auf den Inhalten eines Impulspapiers,
das heute veröffentlicht werden soll. Die Autoren sind Prof. Dr. Hans-Martin
Henning (Direktor am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE), Dr.
Tim Meyer (Vorstand der Naturstrom AG) und Fabian Zuber (Projektleiter bei der
Reiner Lemoine Stiftung).