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Gesundheit & E-Health

Standpunkte 5-Punkte-Plan für lokalen Infektionsschutz

Foto: Katrina Friese/Felix Rachor

Alle Lockerungen von Schutzmaßnahmen können zu einer Zunahme an Covid-19-Erkrankten führen, meinen die Wissenschaftler Michael Knipper und Peter Tinnemann. Um dies zu vermeiden, braucht es die konsequente Umsetzung von fünf strategischen Elementen.

von Michael Knipper und Peter Tinnemann

veröffentlicht am 21.04.2020

aktualisiert am 10.08.2022

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Die historischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens der letzten Wochen haben dazu beigetragen, den Anstieg der Infektionen mit SARS-CoV-2 zu verzögern. Es wurde Zeit für Maßnahmen zur Stärkung des Krankenversorgungssystems gewonnen und die befürchtete Überlastung von Kliniken und Intensivstationen konnte bisher verhindert werden. Jetzt liegen Konzepte für Wege aus dem „Lockdown“ auf dem Tisch und der politische Druck steigt, das öffentliche Leben wieder zu „normalisieren“.

Leider vernachlässigen die bisher vorliegenden Vorschläge für Deutschland einen ganz zentralen Punkt: Egal wie die Maßnahmen im Einzelnen aussehen mögen, die Zahl der Übertragungen wird erneut zunehmen und dabei regional sehr unterschiedlich verlaufen. Aber für diese Herausforderung gibt es bereits eine konkrete Lösung: Der konsequenten Infektionsbekämpfung auf lokaler Ebene muss jetzt eine noch entscheidendere Rolle zukommen. Nur, wenn (möglichst) schnell alle neu auftretenden Infektionen identifiziert und die Weitergabe des Virus konsequent verhindert wird, kann die Epidemie auch ohne generelle Kontaktsperre weiter verlangsamt und die tödlichen Konsequenzen abgeschwächt werden. Es muss darum gehen, wie der Harvard-Infektiologe Salmaan Keshavjee es ausdrückt, das Leben der Menschen nicht unbegrenzt einzuschränken, sondern es zunehmend sicherer zu machen.  

Der Schlüssel dazu ist ein ebenso konsequenter wie kohärenter Gesundheitsschutz auf lokaler Ebene, der neben Kontrollen und Verboten parallel auf lokales Management der medizinischen Betreuung und psycho-soziale Unterstützung setzt. Dies betonen auch die jüngsten Empfehlungen der Leopoldina: „Für die Akzeptanz und Umsetzung getroffener Maßnahmen ist eine auf Selbstschutz und Solidarität basierende intrinsische Motivation wichtiger als die Androhung von Sanktionen.“ Wir wissen aus der Geschichte der Infektionserkrankungen: Unterstützung und Respekt wirken besser als Ausgrenzung und Verbote! 

Deutschland ist dafür mit seinen kommunal organisierten Gesundheitsämtern bestens aufgestellt. Seit Beginn der Covid-19-Epidemie haben unsere Gesundheitsämter gezeigt, wie effiziente Infektionsbekämpfung funktioniert. Sie tragen entscheidend dazu bei, SARS-CoV-2-Infizierte zu identifizieren, verfolgen Kontakte von infizierten Personen nach und veranlassen nötigenfalls Isolationsmaßnahmen und sind bereits in vielen Bereichen der weiteren Begleitung von Infizierten und deren Umfeld involviert. Auch wenn der Öffentliche Gesundheitsdienst nach Jahren der „Konsolidierung“ strukturell massiv geschwächt ist, hat er in den letzten Wochen gezeigt, dass er deutlich besser ist als sein Ruf. 

Wie muss ein lokal wirksamer Gesundheitsschutz aussehen, um einen möglichst sichern Weg aus dem „Lockdown“ zu gewährleisten? Aus der langen Geschichte der Bekämpfung der Tuberkulose, die eng mit der Entwicklung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes verwoben ist, hat sich international eine moderne gemeindebasierte Strategie herausgebildet, die auch für Covid-19 Anregungen bietet: „Suchen, Behandeln und Vorbeugen“ (search, treat and prevent). Neben der gezielten Suche nach Infizierten und Behandlung aller Erkrankten darf vor allem die konsequente Prävention einer weiteren Verbreitung nicht vernachlässigt werden. Weil Infektionsbekämpfung oft mit einschneidenden Maßnahmen verbunden ist, führt sie zu Belastungen und Ängsten bei Betroffenen und Angehörigen. Auch besteht die Gefahr von Stigmatisierung. Daher sind adäquate Kommunikation, soziale Betreuung und medizinische Unterstützung essentielle Elemente zeitgemäßer Infektionsprävention. 

Bei schrittweiser Rücknahme der bisherigen Covid-19-Schutzmaßnahmen bedeutet das konkret:  Konsequente Aufrechterhaltung aller dezentraler Maßnahmen im Sinne von „physical distancing“ und eine kohärente Umsetzung des Infektionsschutzes auf lokaler Ebene mit den folgenden fünf Elementen, koordiniert und umgesetzt von den lokalen Gesundheitsämtern:  

  1. Identifizieren: Aufspüren von Neuinfektionen durch Ausweitung von Testung, insbesondere aller Personen mit besonderem Infektionsrisiko (zum Beispiel im medizinischen Bereich, Altenpflege, soziale Dienste).
  2. Nachverfolgen: Ausweitung der Kontaktnachverfolgung mittels lokaler Personalunterstützung (zum Beispiel Containment-Scouts des Robert Koch-Instituts) und durch neue digitale Anwendungen (zum Beispiel SORMAS des Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und andere mobile Apps).
  3. Isolieren: Konsequente Isolierung und Behandlung aller Erkrankten, wobei die klinisch leicht verlaufenden Fälle bei entsprechender medizinischer Betreuung in der häuslichen Quarantäne betreut werden (gegebenenfalls mit telemedizinischer Unterstützung).
  4. Unterstützen: Integration der psychosozialen Unterstützung von Erkrankten und deren Familien in das Quarantänemanagement der lokalen Gesundheitsämter zur Sicherstellung einer engmaschigen, individuellen (im Regelfall telefonischen) medizinischen Begleitung. Dies beinhaltet: a) Medizinische Aufklärung über die Erkrankung, Symptome und Risiken sowie Präventionsmaßnahmen im Haushalt (Familienangehörige, Mitbewohnerinnen und Mitbewohner) und Erörterung der Frage, ob beziehungsweise wie diese eingehalten werden können (gegebenenfalls individuelle Erarbeitung von Problemlösungen). Die Kommunikation sollte – wenn irgend möglich – in der Muttersprache der Betroffenen erfolgen. b) Engmaschige (tägliche) Erkundigung nach dem körperlichen, psychischen und sozialen Befinden, nach Sorgen und Bedürfnissen (zum Beispiel Einkäufe, Arbeit, Angehörige). Betreuung und psychosoziale Unterstützung anstelle von Kontrolle und Sanktionen (diese nur als letzte Maßnahme)!
  5. Lokales Management: Das Risiko der Ausbreitung des Virus und für schwere oder gar lebensgefährliche Covid-19-Erkrankungen ist gesellschaftlich ungleich verteilt. Nur mit dem Wissen und der Erfahrung auf lokaler Ebene können gezielte und passgenaue Lösungen entwickelt werden, um jene mit dem höchsten Risiko am besten zu schützen, zum Beispiel Menschen in Pflegeheimen und Gemeinschaftsunterkünften oder mit chronischen Krankheiten (und anderen Risikofaktoren für schwere Verläufe von Covid-19) im gemeinsamen Haushalt mit schulpflichtigen Kindern.  

Die Umsetzung dieses spezifischen lokalen Schutzmaßnahmenkatalogs sollte den im Gesundheitsschutz erfahrenen Ärztinnen und Ärzten und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den kommunalen Gesundheitsämtern obliegen. Sie müssen dringend in die Lage versetzt werden, vor Ort das zur Eindämmung von SARS-CoV-2 nötige, engmaschige Netz zur Identifikation, Behandlung und Unterstützung aller Infizierten zu knüpfen und zu erhalten. Gemeinsam mit der Einsicht und Disziplin der Bevölkerung ist der Öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland einzigartig aufgestellt eine nachhaltige Verlangsamung der Epidemie befördern und unsere Kliniken vor der immer noch nicht abgewendeten Überlastung schützen kann. Je weniger Menschen durch seine Maschen fallen, desto flacher die Kurve.    

Dr. Michael Knipper, gehört zur AG Kultur, Migration und Global Health an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Dr. Peter Tinnemann ist Leiter des Projektbereichs Globale Gesundheitswissenschaften an der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

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