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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Bildungsstrategien überdenken

Jana Jünger ist Leiterin des Instituts für Kommunikations- und Prüfungsforschung in Heidelberg
Jana Jünger ist Leiterin des Instituts für Kommunikations- und Prüfungsforschung in Heidelberg

Der Klimawandel beeinträchtigt bereits die Gesundheit vieler Menschen und macht mehr Gesundheitskompetenz in Bevölkerung und bei Fachpersonal nötig. Doch um die ist es schlecht bestellt – ein Grund mehr, Klima- und Gesundheitskompetenz fest in den Curricula an Universitäten, Berufsschulen und allgemeinbildenden Schulen zu verankern, meint Gesundheitsdidaktik-Expertin Jana Jünger.

von Jana Jünger

veröffentlicht am 27.09.2023

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Kürzlich äußerte die Schülerin Nuria Neubauer in der Zeit ihre Frustration darüber, dass das Bildungssystem die Jugend nicht ausreichend auf die Herausforderungen des Klimawandels und dessen gesundheitliche Auswirkungen vorbereitet. Während Schulen den Schüler:innen beibringen, quadratische Gleichungen mit der PQ-Formel zu lösen, fehle es an grundlegenden Informationen darüber, wie Menschen in einer um zwei, drei oder sogar vier Grad wärmeren Welt leben und sich gesund halten.

Dieses Defizit in der Bildung spiegelt ein tief verwurzeltes Problem wider, das durch den Klimawandel nur noch verschärft wird. Studien, insbesondere die von Gesundheitswissenschaftlerin Doris Schaeffer und ihres Teams, zeigen, dass fast 60 Prozent der deutschen Bevölkerung eine unzureichende Gesundheitskompetenz aufweisen. Und unsere Jugend? Sie ist ähnlich schlecht darauf vorbereitet, die nuancierten Verflechtungen zwischen Gesundheit, Umwelt und Klimawandel zu verstehen.

Das deutsche Gesundheitssystem steht bereits jetzt vor enormen Herausforderungen. Viele Patient:innen suchen auch mit sogenannten Bagatellerkrankungen die schon überfüllten Notambulanzen auf, in Sorge, dass sie etwas Schlimmes übersehen könnten. Und andere kommen nicht, obwohl sie gravierende Symptome für eine dringende Behandlungsnotwendigkeit aufweisen. Das richtige Einschätzen können von Symptomen, das Gesundheitsselbstmanagement, aber auch das Aufsuchen und Auffinden der richtigen Anlaufstelle erfordert eine ausreichende Gesundheitskompetenz. Der Deutsche Ärztetag 2023 betonte deshalb die Notwendigkeit der Gesundheits- und Klimakompetenzbildung in Schulen. Das Problem: Lehrer:innen sind häufig mit gesundheitlichen Herausforderungen von Schüler:innen konfrontiert, auf die sie ihre Ausbildung nur unzureichend vorbereitet.

Handlungskompetenz lehren

Es gibt also einen dringenden Bedarf, Gesundheits- und Klimakompetenz in unser Bildungssystem zu integrieren. An gutem Willen mangelt es nicht in den Bildungsplänen – doch an der Umsetzung. Da wird das Herz-Kreislauf-System gelehrt, aber nicht, wie man bei sich selbst oder anderen den Puls misst oder was man mit jemandem macht, der plötzlich bewusstlos wird. Wie viel besser würde das Gelernte behalten, wenn es direkt mit einem Ersten-Hilfe-Kurs verbunden würde. So zeigen zahlreiche Studien, dass rund die Hälfte der Herz- und Krebserkrankungen durch vermeidbare Umwelt- und Risikofaktoren bedingt sind. Schon kleine Änderungen im Lebensstil – zum Beispiel 4000 Schritte am Tag – reduzieren das Krebsrisiko und halten länger gesund. Solange Prävention aber nicht in konkrete Bedeutungszusammenhänge und Handlungskompetenz für den Einzelnen übersetzt und konsequent geübt wird und die Schulküche dann auch noch das anbietet, was als gesunde Ernährung gelehrt wurde, erzielen sich widersprechende Zustände eher kognitive Dissonanz.

Verstärkt durch die Corona-Pandemie, aber auch durch die Angst infolge des Klimawandels hat sich auch die psychische Gesundheit verschlechtert. Prävention und Förderung von Gesundheits- und Klimakompetenz gehören deshalb verbindlich in Kita und Schulen. Zurzeit versuchen engagierte Lehrer:innen und Erzieher:innen in Eigeninitiative Materialien, wie zum Beispiel „Pausenlos Gesund“, in den Unterricht zu integrieren, um Schüler:innen zu vermitteln, wie sie gute Gesundheitsinformationen im Internet suchen, beurteilen und anwenden. Hier braucht es dringend Unterstützung.

Doch sieht es in den Gesundheitsfachberufen besser aus? Nicht wirklich. Weder was die Gesundheitskompetenz noch die Klimakompetenz angeht. Wieder gibt es zahlreiche engagierte Initiativen und Projekte – zum Beispiel das Wahlfach Planetare Gesundheit der virtuellen Hochschule Bayern oder die Planetary Health Academy von KLUG, in der exzellente Expert:innen über die Herausforderungen für die Gesundheit durch den Klimawandel sprechen. Dennoch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine systematische und verbindliche longitudinale Integration in alle Fächer und in die entsprechenden Prüfungen gibt. Weder in den Gesundheitsfachberufen noch in den Schulen.

Erste wichtige Schritte sind getan

Doch trotz dieser Herausforderungen gibt es Hoffnung. Die Stiftung Gesundheitswissen hat das gemeinnützige Institut für Kommunikations- und Prüfungsforschung (IKPF) beauftragt, in Zusammenarbeit mit Fachleuten aus dem Gesundheits- und Bildungsbereich einen Lernzielkatalog zu erstellen. Die Resonanz ist überwältigend. Über 80 Expert:innen von medizinischen Fachgesellschaften und anderen Einrichtungen haben ihre Unterstützung zugesagt. Dieser Katalog wird wichtige Kompetenzen abdecken, von der Entfernung einer Zecke bis zum richtigen Verhalten bei einem Starkregenereignis.

Aber auch bei den Gesundheitsberufen ist einiges zu tun. In Kooperation mit der Universität Jena und der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) wurde der weltweit erste Prüfungsparcours (OSCE = objective structured clinical examination) zum Thema Planetare Gesundheit erstellt. Neun Fächer wie Allgemeinmedizin, Anästhesie, Psychiatrie, Radiologie, Infektiologie, Geriatrie etc. haben konkrete ärztliche Beratungsaufgaben für die Prüfungen erstellt, die auf Ärzt:innen durch den Klimawandel zukommen. Wie identifiziere ich im Pflegeheim die bei einer Hitzewelle besonders gefährdeten Bewohner:innen? Bei wem müssen die Medikamente angepasst werden? Und wie vermeiden wir bei Narkosen schädliche Gase? Alle Prüfungsunterlagen wurden zusammen mit Expert:innen und Studierenden erstellt und stehen den 31 Fakultäten des UCAN-Verbundes (UCAN = Umbrella Consortium for Assessment Networks) kostenlos zur Verfügung und können in den eigenen Prüfungen eingesetzt werden.

Die Förderung Planetarer Gesundheit ist auf die enge Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsfachberufen und die Stärkung von Klima- und Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung angewiesen. Die verschiedenen Maßnahmen, wie die Integration von Lehre zu Klima- und Gesundheitskompetenz in Schule und Medizinstudium, die Qualifizierung von Lehrkräften sowie Gesundheitsfachberufen in Planetarer Gesundheit müssen aufeinander abgestimmt sein. In der Corona-Pandemie ist es überdeutlich spürbar gewesen, dass globale Veränderungen sich viel stärker auf unser Gesundheitssystem auswirken. Die Ausbreitung von bestimmten Viruserkrankungen ist nur ein Beispiel von vielen. Diese Herausforderungen können nur interprofessionell gedacht und durch berufsgruppenübergreifendes Handeln gelöst werden.

Die diesjährige Jahrestagung des UCAN-Prüfungsverbundes, einem internationalen Zusammenschluss aus 95 Institutionen aus 8 Ländern, hat deshalb den Schwerpunkt Planetare Gesundheit für ihre Jahrestagung gewählt. „Interprofessional Thinking – Teaching, Learning and Testing Interprofessionality“. Morgen und übermorgen werden Expert:innen aus verschiedenen Gesundheitsberufen in Hamburg darüber diskutieren, wie Bildung, Training und Prüfungen im Gesundheitssektor angesichts globaler Herausforderungen neu ausgerichtet werden müssen. Es gilt, die komplexen Bedrohungen in umsetzbare und machbare Handlungsschritte zu übersetzen, dann erwächst aus der Überforderung die Wahrnehmung, dass jeder wirksam werden kann. Vielleicht wüsste dann die Schülerin Nuria Neubauer, welches Verhalten sie selbst und andere bei einer Hitzewelle schützt.

Jana Jünger leitet das Institut für Kommunikations- und Prüfungsforschung in Heidelberg und ist Mitglied der Studiengangsleitung des Master of Medical Education (MME) der Universität Heidelberg. Von 2016 bis 2022 war sie Direktorin des Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) in Mainz. 

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