Die klimaschädlichen Emissionen steigen weiter. Die Temperaturen nehmen zu. Unser Planet nähert sich gefährlich einem Punkt, wo sich die Zerstörung nicht mehr umkehren lässt. Wir befinden uns auf dem „highway to climate hell“, wie UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Eröffnungsrede zur jüngsten Klimakonferenz COP 27 in Scharm-asch-Schaich warnte. Und es ist ein „one way ride“, wie das zitierte Lied von AC/DC betont. Die Konferenz zeigt wieder: Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen ist die größte Bedrohung unserer Zeit. Das gilt auch und gerade für unsere Gesundheit.
Genau das ist die wichtigste Aussage des diesjährigen Lancet Countdown Berichts – dem jährlichen Report zu den globalen Gesundheitsfolgen der Klimakrise. Deren negative Folgen lassen sich in allen Bereichen erkennen:
• Sämtliche Organsysteme sind betroffen, alle Teile der Bevölkerung sind überall gefährdet.
• Extreme Wetterereignisse kosten jedes Jahr weltweit Hunderttausende von Menschenleben.
• Die Gefahren durch Hitzewellen für die Bevölkerung steigen rasant. In diesem Jahr hatten wir in Deutschland nach Berechnungen des Robert Koch-Instituts 4500 hitzebedingte Todesfälle. Hinzu kommen Hunderttausende Menschen, die mit schweren Symptomen reagieren, Millionen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit.
• Allergien nehmen zu. Die Pollen fliegen länger, sie sind mehr und aggressiver.
• Der Klimawandel betrifft alle Säulen der Ernährungssicherheit. Steigende Temperaturen und extreme Wetterereignisse führen zum Rückgang der Ernteerträge und zu etwa 100 Millionen zusätzlich Hungernden weltweit.
Große Teile der deutschen Bevölkerung erleben inzwischen, dass die Klimakrise auch bei uns angekommen ist. Trotzdem fällt der Verzicht auf fossile Energien den meisten Menschen schwer. Wir schaffen wir es, gemeinsam diesen Widerspruch aufzulösen?
Symptome klassischer Abhängigkeit
Hier hilft eine gesundheitliche Perspektive. Wir wissen, dass bei Suchterkrankungen der Wille und die Mitarbeit der Abhängigen unverzichtbar sind. Ziehen wir eine Parallele zu unserer Lebensweise, die durch fossile Brennstoffe ermöglicht wird: Sie ist Teil unserer persönlichen und kollektiven Identität. Wir können uns nicht vorstellen, darauf zu verzichten, obwohl es klar ist, dass wir damit mit hohem Tempo auf unserem „highway to hell“ sind. Sprechen wir das deutlich an, reagieren viele mit Wut, Verharmlosung und Verleugnung der Realität, Symptome einer klassischen Abhängigkeit.
Trotzdem müssen wir die Energiesüchtigen zu einer Krankheitseinsicht bringen, um durch ihre Mitarbeit Therapiefortschritte zu erzielen. Das gilt auch für die Klimakrise. Um die Bedrohung genauso wie die Therapiemöglichkeiten öffentlich zu machen, hat sich vor fünf Jahren die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) gegründet, ein Zusammenschluss von Menschen aus Gesundheitsberufen. Hier arbeiten Pflegekräfte, Hausärzte und Therapeuten, Vertreter von Fachgesellschaften und Kammern usw. auf allen Ebenen zusammen. Jenseits des Parteiengezänks machen sie deutlich: die Beschleunigung der Energiewende – Energiesparen, Energieeffizienz und fossilfreier Energieerzeugung – ist die Therapie, ist das größte Gesundheitsprojekt unserer Zeit.
Ärzte initiierten oft gesellschaftliche Veränderung
Bis vor drei Jahren war die Klimagesundheitsbewegung noch ein totes Feld; inzwischen entwickelt sie sich mit großer Geschwindigkeit, quer zu allen Berufsgruppen und von jungen Studierenden bis zu alten Hasen, von den Konservativen zu den eher Linken. Was sie verbindet, ist der wissenschaftlich geschulte Blick auf das, was bei Notfällen zählt: erst ein kühler Kopf, der die Situation analysiert, und dann rasches und entschlossenes Handeln.
Die Urväter und -mütter von gesellschaftlicher Veränderung waren häufig Ärzte oder Krankenpflegerinnen – wie Virchow, Pettenkofer, Koch und Florence Nightingale. Vor fast 200 Jahren hat ihr Tun zu umfassenden Transformationen geführt, allen Skeptikern und Zauderern der damaligen Zeit zum Trotz. Die haben zwar heute noch die Überhand, aber bald werden sie der Vergangenheit angehören.
Martin Herrmann ist Initiator und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), eines vor fünf Jahren gegründeten Zusammenschlusses von Menschen aus Gesundheitsberufen. Ursprünglich Arzt und Psychotherapeut hat sich Herrmann beruflich mittlerweile auf die Beratung von Unternehmen und NGOs verlegt. Er entwickelte neue Methoden zur Organisationsentwicklung und lehrt an internationalen Business Schools und Hochschulen.