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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Datenspenden für die Versicherung

Markus Unterkofler, Head Client Management L&H Germany, Swiss Re
Markus Unterkofler, Head Client Management L&H Germany, Swiss Re Foto: SwissRe

Immer mehr Menschen besitzen Wearables und sammeln ihre Gesundheitsdaten – eine Chance für Nutzer und Lebensversicherer, meint Markus Unterkofler von SwissRe. In seinem Standpunkt erklärt er, welche regulatorischen Voraussetzungen es dafür braucht und wo die Datennutzung ihre Grenzen hat.

von Markus Unterkofler

veröffentlicht am 23.05.2022

aktualisiert am 26.05.2022

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Die digitale Revolution ist im Alltag angekommen. Wir steuern unser Smart Home über das Handy, wir investieren unser Geld per App und spätestens seit Corona gehen wir virtuell zum Arzt. Auch die Lebensversicherungsbranche digitalisiert sich – langsamer als andere Bereiche, aber spürbar. Dass wir es hier eher mit einer digitalen Evolution als einer Revolution zu tun haben, liegt am Geschäftsmodell: Die Branche verkauft keine einfachen, kurzlebigen Konsumgüter, sondern komplexe, abstrakte Produkte mit zum Teil buchstäblich lebenslangen Garantien, die heute schon auf vielen statistischen Daten basieren. Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch die gesetzliche Regulierung.

Die Vielzahl heute verfügbarer Gesundheits-Apps ermöglicht neuartige Versicherungslösungen. Beispiele hierfür beobachten wir primär in anderen Märkten, wie etwa Asien. Aufgrund der dortigen regulatorischen sowie gesellschaftlichen Voraussetzungen ist die Nutzung von Lifestyle-Daten mittlerweile gang und gäbe.

Mehr Freiraum bei der Nutzung von verfügbaren Daten als heute wäre auch in Europa wünschenswert. Versicherer sollten den neuen Datenschatz im Interesse ihrer Kunden nutzen und ihnen verbesserte und zeitgemäße Versicherungslösungen anbieten können. Dabei darf die Nutzung neuer Daten selbstverständlich nicht dazu führen, das Prinzip Versicherung auszuhebeln. Überspitzt ausgedrückt: Wenn Versicherer alles über ihre Kunden wissen, wird es für Menschen mit hohen Gesundheitsrisiken schlimmstenfalls unmöglich, sich überhaupt versichern zu können. Ziel muss ein maßvoller Mittelweg sein, der einerseits mehr Versicherungsinnovationen ermöglicht, anderseits aber den Schutz persönlicher Daten weiterhin garantiert.

Dazu sollte die Versicherungsbranche den Prozess, wie sie Gesundheitsrisiken erfasst, verarbeitet und versicherungstechnisch bewertet, überarbeiten. Heute wissen wir, dass die Gesundheit eines Menschen wesentlich dynamischer und vielschichtiger ist, als es traditionelle Versicherungsmodelle abbilden. Ein grundlegender Teil der notwendigen Veränderung besteht deshalb darin, einen Menschen ganzheitlicher zu sehen und zu erkennen, dass dessen Gesundheit von weit mehr Faktoren abhängt als bislang in die Betrachtung mit einbezogen wurden.

Neuer Ansatz in der Risikobewertung

Heutzutage stehen immer mehr zuverlässige Gesundheits- und Wellnessdaten zur Verfügung. Menschen zeichnen auf ihren tragbaren mobilen Geräten regelmäßig ihre Schritte, ihre Schlafdauer und vieles mehr auf. Auch chronische Erkrankungen wie Diabetes können über eine App gemonitort und kontrolliert werden. Diese Daten können genutzt werden, um für alle einen Nutzen zu erzeugen, dürfen aber nicht zu einer „Entsolidarisierung“ des Versichertenkollektivs führen. Diese „goldene Mitte“ zu finden ist die Aufgabe, die sich Versicherer und Regulierer gemeinsam zum Ziel setzen sollten.

Die immer weiter verbreitete Nutzung digitaler individueller Gesundheitsdaten beruht unter anderem auf einem wachsenden Bewusstsein von Verbrauchern für das eigene Wohlbefinden und besonders dafür, dass sie dieses selbst beeinflussen können. Die Versicherungsbranche sollte Menschen im Umgang mit der eigenen Gesundheit unterstützen und ihnen helfen, diese zu verbessern. Dies kann dazu beitragen, einen neuen Ansatz in der Risikobewertung zu entwickeln, der die Einzelperson in die Lage versetzt, ihre Gewohnheiten eigenständig zu ändern.

In der Branche haben wir uns bei der Einschätzung der Gesundheitsrisiken einer Person lange Zeit hauptsächlich auf klinische Daten wie Body-Mass-Index, Blutdruck, Fettwerte, Alter und Rauchgewohnheiten gestützt. Da uns nun zuverlässige digitale Daten zu Gesundheit und Wohlbefinden zur Verfügung stehen, lässt sich das Gesundheitsrisiko einer Person auch anhand alternativer Faktoren des Lebensstils einschätzen, wie etwa sportliche Aktivität, Schlaf oder Passivrauchen – natürlich nur nach Einwilligung der Person und im Rahmen anwendbarer gesetzlicher und regulatorischer sowie grundsätzlicher ethischer Standards.

In der Kombination mit klinischen Faktoren können diese Daten verwendet werden, um das Gesundheitsrisiko von Kunden individueller und dynamischer abzuschätzen. Dies geschieht in der Interaktion zwischen Versicherten und Versicherer und sorgt so für eine neue und verbesserte Kundenerfahrung. Am wichtigsten jedoch: Es schafft Anreize für Einzelpersonen, einen gesunden Lebensstil zu pflegen und die Prävention zu stärken. Dies schlägt sich letzten Endes in niedrigeren Versicherungs- und Gesundheitskosten nieder.

Sechs maßgebliche Lifestyle-Faktoren

Basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen liegen diesem neuen Ansatz sechs maßgebliche Lifestyle-Faktoren zugrunde: Schlafverhalten, Ernährung, körperliche Betätigung, psychisches Wohlbefinden, Substanzkonsum und Umwelteinflüsse. Studien belegen beispielsweise, dass regelmäßiger Sport in Verbindung mit gesundem Schlaf zu einem um ein Drittel geringeren Sterblichkeitsrisiko führt – gegenüber Personen mit entsprechend ungesunderem Lebensstil. Ebenso korreliert psychisches Wohlbefinden stark mit Gesundheitsrisiken wie Herz-Kreislauf-Krankheiten und Sterblichkeit.

Man kann davon ausgehen, dass die kombinierte Betrachtung von Lebensstil und klinischen Faktoren die Zukunft der Risikobeurteilung in der Branche darstellt. Mit Blick auf die digitale Revolution in anderen Wirtschaftsbereichen sowie im persönlichen Alltag erwarten Verbraucher zurecht eine Weiterentwicklung dieses Trends. Die Versicherungsbranche verfügt über zuverlässige neue Datenquellen, um diesen Erwartungen gerecht zu werden.

Möglich sind zum Beispiel Risikobewertungen, die nicht mehr nur einmalig zu Beginn der Versicherungslaufzeit erfolgen, sondern während der gesamten Laufzeit dynamisch und flexibel angepasst werden. Versicherte haben so die Möglichkeit, durch bewusstes Verhalten aktiv Einfluss zu nehmen und sich Vorteile zu verschaffen. Erste Versicherer integrieren diesen Ansatz bereits in ihre Modelle und bieten entsprechende Anreize für ihre Kunden.

Klare Regularien notwendig

Voraussetzung für die Nutzung von persönlichen Daten sind klare regulatorische Leitplanken. Es muss für Kunden nicht nur transparent sein, welche ihrer Daten wie genutzt werden, sondern auch welche möglichen Entscheidungen deren Nutzung nach sich ziehen kann. Die Branche riskiert sonst den Vorwurf, zu einer „Black Box“ zu werden, die gutgläubigen Trägern einer Fitnessuhr die Prämien erhöht, nur weil sie zum Beispiel im Urlaub tauchen waren.

Menschen verfolgen zunehmend ihre Aktivitäten, weil sie gesünder leben möchten. Dank zahlreicher Forschungsergebnisse und neuer Methoden der Risikobewertung lassen sich heute Produkte entwickeln, die dieses Ziel unterstützen. So ist eine personalisierte und einfachere Risikoabsicherung möglich, ohne das Grundprinzip der Versicherung zu unterminieren.

Davon profitieren alle, auch die öffentliche Hand. Um diesen Fortschritt zu ermöglichen, brauchen wir einen zeitgemäßen regulatorischen Rahmen, der neue Freiräume zur Datennutzung schafft und gleichzeitig die Datenhoheit der Versicherten schützt. Wie die Digital- und Datenregulierung in der Europäischen Union zeigt, müssen wir uns dabei nicht an den USA oder einzelnen Märkten in Asien orientieren. Besserer Versicherungs- und hoher Datenschutz sind kein Widerspruch – sie bedingen einander. Es wäre wünschenswert, dass Europa beim Thema Versicherungen mit zukunftsorientierter Regulierung vorangeht.

Markus Unterkofler ist Head Client Management L&H Germany, Swiss Re.

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