Die rapide Digitalisierung unseres Alltags ermöglicht Zugang zu individuellen Datenmengen in bislang unvorstellbarem Ausmaß. Daten sind heute weit mehr als gespeicherte Informationen. Sie sind die Bausteine einer sich verändernden Welt von heute und einer noch stärker vernetzten Welt von morgen. Datenschutz, wie wir ihn bisher kannten, nimmt in vielen Bereichen neue Formen an – auch im Gesundheitswesen. Zukunftsweisende Konzepte von Datenschutz und Privatsphäre sind notwendig, um technologische Möglichkeiten zu nutzen und Fortschritt zu ermöglichen. Ähnlich wie andere Themen mit einst großer gesellschaftlicher Sprengkraft – seien es Themen wie das Frauenwahlrecht oder die gleichgeschlechtliche Ehe – müssen wir heute die Fakten und Vorteile der Erhebung und Weitergabe von Gesundheitsdaten diskutieren, bis ein gemeinsames Verständnis hergestellt ist und ein gesellschaftlicher Konsens entsteht.
Im Vergleich zu Branchen wie dem Einzelhandel und der Medienindustrie, die bei der Datennutzung deutlich vorne liegen, hinkt die Digitalisierung des Gesundheitswesens noch hinterher. Das liegt nicht zuletzt daran, dass im Kontext der Erhebung und Nutzung von Daten häufig zunächst Risiken und nicht Chancen gesehen werden. Um in der Gesundheitsversorgung die nächste Stufe zu erreichen, muss die öffentliche Diskussion den gleichen Prinzipien und Werten folgen, die zur Errichtung unserer öffentlichen Gesundheitssysteme beigetragen haben: Solidarität, Selbstbestimmung und Subsidiarität.
Viele Akteure im Gesundheitswesen sind sich einig, dass wir den Umgang mit Daten neu definieren müssen, um eine stärker personalisierte Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Durch die intelligente Verknüpfung verschiedener Datenquellen und Verbindung einzelner Datensets werden Silos aufgebrochen und damit neue Formen von wertvoller Real World Evidence geschaffen. Für eine moderne, am Patienten orientierte Gesundheitsversorgung brauchen alle Beteiligten ein besseres Verständnis, wie es dem Patienten im Alltag geht, also auch außerhalb von Krankenhaus und Arztbesuch. Welche Therapie wirkt? Welche nicht? Was verändert sich im Laufe der individuellen Erkrankung? Warum ändert es sich? Die Antworten auf diese Fragen bieten uns die Möglichkeit für ein besseres Krankheitsmanagement und Ansatzpunkte für wegweisende und individualisierte Therapien. Neue Datenquellen, die anonymisierte Patientendaten im Alltag erheben – sogenannte Real-World Daten, sind für diesen Fortschritt unabdingbar.
Vertrauen als Basis
Auch wenn das Ziel definiert ist, bleibt die schwierige Frage: Wie kommen wir dorthin und wie können wir allen Akteuren Rechnung tragen? Wir müssen Vertrauen in ein Ökosystem aufbauen, von dem letztlich jeder profitiert: Patienten müssen vertrauen können, dass die aktive Entscheidung, die eigenen Daten mit dem System zu teilen, zu einer Verbesserung für sie und alle andere führen wird. Krankenversicherungen brauchen Sicherheit, dass das System akkurate Entscheidungen bezüglich der Kostenerstattung ermöglicht. Die Hersteller von Arzneimitteln und Medizinprodukten brauchen das Vertrauen, dass auf einer breiteren und validen Datenbasis bessere Produkte entwickelt und in die Märkte eingeführt werden können. Und die Aufsichtsbehörden müssen sich darauf verlassen, dass das Ökosystem Daten sammelt, die einen qualitativ hochwertigen Beitrag zur Arzneimittelsicherheit und -zulassung leisten und so letztlich eine immer sicherere und wirksamere Versorgung der Patienten und damit die Zukunftssicherheit des Systems insgesamt ermöglichen. Dieses Vertrauen bei allen Stakeholdern aufzubauen ist essenziell – und zugleich die möglicherweise größte Herausforderung in diesem Kontext.
Wir müssen also erklären, warum Entscheidungen im Gesundheitswesen auf der Grundlage von Daten getroffen werden müssen und den Menschen die Sicherheit geben, dass die Verwendung der Daten verantwortungsvoll und kontrolliert erfolgt. Datenmissbrauch muss unbedingt vermieden werden. Europa ist dank seines regulatorischen Umfelds und der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) einen Schritt voraus. Wir haben bereits begonnen, Vertrauen in das neue System zu schaffen, in dem jeder der gemeinsamen Nutzung seiner Daten zustimmen muss. Es ist wichtig, das Bewusstsein für die DSGVO als ein Instrument zu fördern, das es den Menschen ermöglicht, aktiv zu entscheiden, welche Daten sie für einen bestimmten Zweck freigeben wollen und welche nicht. Es ist möglich, Daten vollständig DSGVO-konform zu verwalten und daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die im Gesundheitssystem und für den Patienten bessere Ergebnisse erzielen.
Volle Zustimmung der Bürger
Bei Temedica willigen im Schnitt sieben von zehn Patienten ein, ihre Informationen und Daten anonymisiert zu diesem Ökosystem beizutragen. Diese extrem hohe Zustimmungsrate rührt unter anderem daher, dass die Patienten wissen, dass es sich nicht mehr um personalisierte Daten handelt, sondern um anonymisierte Daten, die von ihrer Person völlig losgelöst sind. Sie verstehen, dass diese Daten zu einer besseren Therapie nicht nur für sie selbst, sondern auch für andere Patienten beitragen können. Auf diesem Verständnis müssen wir aufbauen und den unmittelbar Betroffenen zuhören, sie nicht gar bevormunden und die gemeinsame Nutzung von Daten nicht in schwarz oder weiß malen: wir sollten mit entsprechender Vorsicht auch die Grauzonen erkunden. Das erfordert ein gewisses Maß an Selbstvertrauen und Vertrauen zwischen allen Beteiligten. Entscheidend hierfür ist gemeinsame Übereinkunft, dass die Datenerhebung und -weitergabe anonymisiert und mit der vollen Zustimmung des Datenbesitzers erfolgt.
Wenn uns die COVID-19-Pandemie eines gelehrt hat, dann, dass wir für schnelle Entscheidungen eine starke digitale Gesundheitsinfrastruktur brauchen. Wir brauchen Zugang zu relevanten Daten, die eine qualitativ hochwertige Entscheidungsfindung unterstützen. Immer mehr Akteure im Gesundheitswesen erkennen dies und ich freue mich darüber, Teil dieser spannenden Diskussion zu sein und zur Lösung beizutragen.