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Nikolaus Schmidt-Sibeth, medizinischer Leiter bei TeleClinic
Nikolaus Schmidt-Sibeth, medizinischer Leiter bei TeleClinic Foto: TeleClinic

Das Corona-Jahr hat erste Berührungsängste gegenüber der Telemedizin abgebaut. Damit 2021 alle von der Videosprechstunde profitieren, müssen Ärzte im Sinne ihrer Patienten Teil der Entwicklung sein, meint Nikolaus Schmidt-Sibeth, medizinischer Leiter bei TeleClinic.

von Nikolaus Schmidt-Sibeth

veröffentlicht am 12.01.2021

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Selten ruft das Wort Veränderung Freude hervor, schwingt für viele doch immer Unsicherheit und Ungewissheit mit. Dabei wird oft das Wichtigste übersehen: Veränderung kann auch Problemlösung bedeuten. 

Übersehen wird auch ein Problem in der deutschen Gesundheitsversorgung, das sich so gar nicht verändert. Wer behandelt die Patienten, wenn kein Arzt da ist? Krankenhäuser finden keine neuen Mitarbeiter, Praxen schließen, weil der Nachwuchs fehlt, und das zum Nachteil der Bevölkerung vor allem in ländlichen Gegenden. Die Lücken könnte Telemedizin füllen, wären da nicht Dr. Wenn und Dr. Aber.

Ein Arzt für alle Fälle

Wie Phoenix aus der Asche ist die Telemedizin in der Corona-Pandemie auferstanden. Auf einmal ist es für den Arzt in München möglich, Patienten aus ganz Deutschland zu behandeln - zum Beispiel auch aus dem Saarland, wo 2019 12,3 Prozent der häusärztlichen Versorgungsstellen unbesetzt blieben. Ärzte können ihre Videosprechstunde flexibel in den Arbeitsalltag integrieren und es ergeben sich neue Möglichkeiten, Familie und Beruf zu vereinen. Und auch den Patienten freut es: Keine Wartezeit in überfüllten und keimbelasteten Hinterzimmern. 

Und so reiht sich Telemedizin neben der ambulanten und stationären Versorgung ein, bereit die Last der beiden Platzhirsche zu tragen und damit Kapazitäten freizuschaufeln für all jene (Not-)Fälle, die nicht telemedizinisch behandelbar sind. 

Doch statt auf Chancen setzt Deutschland Grenzen. Fakt ist jedoch, dass Patienten die Videosprechstunde zunehmend nachfragen. Jeder zweite zieht die Videosprechstunde dem Arztbesuch in der Praxis vor. Und so greifen Patienten munter zu dem Angebot, das der Markt ihnen bietet. Wenn der eigene Hausarzt nicht mitmacht, dann wird ein anderer irgendwo in Deutschland das medizinische Problem lösen.

Was ich damit sagen will: Wir können die Entwicklung nicht aufhalten, in dem wir die Veränderung ignorieren. Stattdessen müssen wir die niedergelassenen Ärzte Teil dessen sein. 

Doch den gewohnten Arzt-Patienten-Kontakt ins Digitale zu übertragen, ist nach wie vor für viele Arztkollegen ein Hindernis. Gründe dafür gibt es viele: 

  1. Neue Technik: Jeder fünfte Arzt gibt in einer Umfrage der Stiftung Gesundheit an, sich noch nicht mit der Technik vertraut gemacht zu haben. Hinzu kommt der Aufwand, die neue Technik anzuschaffen, einzurichten und in die eigene Infrastruktur der Praxis zu integrieren.
  2. Neue Behandlungswege: Ein Arztgespräch per Video folgt eigenen Regeln. Der Patient muss identifiziert werden, Untersuchungen, wie zum Beispiel Puls messen oder in den Hals schauen bedarf der aktiven Mithilfe des Patienten. Die gewohnten Behandlungswege müssen also neu gedacht werden.
  3. Neue Grundlagen: Der organisatorische und rechtliche Aufwand kann für “Neulinge” erschlagend wirken. Wie viele Patienten darf ich pro Quartal telemedizinisch behandeln? Wie viele habe ich im laufenden Quartal schon behandelt? Wie rechne ich die Behandlung am Ende richtig ab? Mit welchen Konsequenzen muss ich rechnen, wenn mir bei der Behandlung einmal ein Fehler unterlaufen sollte? 
  4. Zusätzlicher Abrechnungsziffern: Im Rahmen der Abrechnung mit gesetzlichen Krankenversicherungen ist die Regelung unübersichtlich und unscharf. 

Insbesondere die Abrechnung birgt viel Raum für Verbesserung. Das oberste Ziel muss es sein, die Abrechnung einfacher zu gestalten, um Ärzten den Zugang zur Telemedizin zu erleichtern. Zum Beispiel durch einheitliche Vergütungen pro telemedizinischer Behandlung, unabhängig des Behandlungsfalls. Denn momentan lohnt sich Telemedizin aufgrund des Vergütungsmodells für einige Ärzte mehr als für andere. 

In der Praxis ist es sinnvoll, Behandlungen wie zum Beispiel eine Ultraschalluntersuchung höher zu vergüten, da dies voraussetzt, dass der Arzt ein solches Gerät angeschafft und eine entsprechende Qualifikation hierfür hat. In der Videosprechstunde basiert die Behandlung jedoch in allen Fachrichtungen grundlegend auf dem Gespräch und somit ist es nur fair, wenn Ärzte die Zeit pauschal vergütet bekommen. Ärzte sind eben auch Unternehmer und wollen Planungssicherheit. Sie wollen wissen, was am Ende der Behandlung finanziell übrigbleibt.

Standards schaffen Sicherheit

Gerade vor dem Hintergrund der Pandemie ist sehr viel Druck auf die digitale Grundversorgung von Patienten entstanden und Prozesse wurden beschleunigt. Aktionismus und Effizienzsteigerungen können jedoch zu Lasten der Qualität gehen. Wenn sich eine innovative und entlastende Behandlungsmethode wie die Telemedizin in Deutschland etablieren soll, dann geht das nur mit weniger Bürokratie und mehr Qualitätsstandards. 

Denn was unsere Patienten jetzt brauchen, sind klare Regeln statt Wilder Westen. Sind „richtig” und „falsch“ nicht definiert, öffnen wir Tür und Tor noch weiter für schnelle Dienstleistungen ohne Standards. Das Ziel sollte es sein, Deutschlands Patientenversorgung flächendeckend sicherzustellen. Dabei muss der Patient die Gewissheit haben, dass der Online-Arzt die Behandlung richtig durchführt und die Prozesse vom Staat und den Fachgremien qualitativ geprüft und abgesichert sind.

Wir müssen uns also die Frage stellen: Wie sieht der ideale Behandlungsablauf aus? Für die Antwort bedarf es einer offenen und ehrlichen Diskussion mit Anbietern, Politikern und vor allem der Ärzteschaft, auf Basis des Status quo und unter Einbeziehung der verschiedenen Interessengruppen. Es ist essenziell, dass die Chancen gesehen, aber auch die Ängste der einzelnen Stakeholder gehört werden, damit im Sinne aller ein für Deutschland hoch qualitatives und sicheres System der telemedizinischen Versorgung geschaffen werden kann. 

Dr. Nikolaus Schmidt-Sibeth ist medizinischer Leiter bei TeleClinic und ist zuständig für die Qualitätssicherung, das Onboarding und die Schulung der Ärzte sowie die Ärztekommunikation. Zudem verantwortet er die Entwicklung von medizinischen Inhalten und die fachliche Weiterentwicklung des Themas Telemedizin. Der approbierte Facharzt für Allgemeinmedizin ist mit über 15 Jahren Berufserfahrung in großen Praxen und Krankenhäusern ein erfahrener Generalist und Medizin-Experte. 

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