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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Wer Digitalisierung will, muss mutig sein

Andreas Bogusch, CEO von Medgate
Andreas Bogusch, CEO von Medgate Foto: Medgate

Andreas Bogusch, CEO des Telemedizin-Anbieters Medgate, fordert in seinem Standpunkt Leistungserbringer, die auf Digitalisierung spezialisiert sind. Diese seien eine Ergänzung und vor allem Entlastung für den klassischen Arzt.

von Andreas Bogusch

veröffentlicht am 21.11.2022

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2002 einigte sich die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) mit Spitzenorganisationen des Gesundheitswesens zum Aufbau einer Telematik-Struktur. Es sollte eine Architektur moderner Informations- und Kommunikationstechnologien etabliert werden, unter anderem um elektronische Rezepte zu ermöglichen. Bereits damals hatte man erkannt, dass Telematik kein moderner Firlefanz oder Modernisierungs-Selbstzweck ist, sondern sehr konkret die medizinische Versorgung der Bürgerinnen und Bürger verbessert. Deutschland sollte dank einer modernen Gesundheits-Telematik in Europa Vorreiter werden. 20 Jahre später wissen wir: Das hat nicht geklappt.

Außer der elektronischen Gesundheitskarte (eGK), die mit neun Jahren Verzögerung eingeführt wurde und vom Bund der Steuerzahler als „skandalös“ bezeichnet wurde, sind bislang kaum Telematik-Anwendungen beim Bürger angekommen. Der Bund der Steuerzahler kritisierte, dass den hohen Kosten der eGK kaum Funktionen gegenüberstünden.

Auch andere Telematik-Anwendungen tun sich schwer. Zum Beispiel das E-Rezept. Mancher mag es schon verdrängt haben, aber laut Patientendaten-Schutz-Gesetz sollte es zum 1. Januar 2022 flächendeckend und verpflichtend eingeführt werden. Wegen der Kritik – zu kurze Testphase, zu geringe Mehrwerte, zu aufwändige Umsetzung – wurde ein sukzessiver Roll-out nach Regionen beschlossen mit Start in Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe. Jetzt haben beide Kassenärztliche Vereinigungen den Roll-out erst einmal gestoppt. Zwar wurden bereits 600.000 E-Rezepte eingelöst, das bietet aber kaum Trost angesichts der jährlich 500 Millionen Papierrezepte und wirkt eher wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Diskriminierung digitaler Leistungen

Ernüchterung auch bei der Videosprechstunde. Während der Pandemie glaubte man, der Durchbruch sei geschafft. Plötzlich praktizierten viele Ärztinnen und Ärzte telefonische oder videobasierte Sprechstunden. Die Begeisterung war groß. Doch jüngst deckte eine kleine Anfrage im Bundestag auf, dass im ersten Quartal lediglich 15 Prozent der Vertragsärztinnen und -ärzte Videosprechstunden abrechneten. Im Klartext: 85 Prozent der Kassenärztinnen und -ärzte haben keine einzige Videosprechstunde praktiziert. Damit steht dieser digitale Versorgungspfad den Patientinnen und Patienten nur selten zur Verfügung. Obwohl Videosprechstunden funktionieren, sinnvoll sind und von Patientinnen und Patienten gewollt, wie zahlreiche Umfragen belegen. Den Arztpraxen den schwarzen Peter zuzuschieben, greift zu kurz. Denn obwohl die Digitalisierung politisch gewollt ist, werden digitale ärztliche Leistungen diskriminiert: Sie werden schlechter honoriert und Arztpraxen dürfen nur einen gewissen Anteil ihrer Sprechstunden digital leisten.

Dabei passiert viel. Die Politik hat zahlreiche Digitalisierungsgesetze auf den Weg gebracht und auch andere Akteure haben viele Projekte angeschoben. Es kommt allerdings zu wenig beim Gros der Patientinnen und Patienten an. Nach über zwei Jahrzehnten Ringen um den digitalen Fortschritt im Gesundheitswesen ist es an der Zeit, unbequeme Fragen zu stellen: Ist die bestehende Versorgungsstruktur, wie wir sie heute kennen, in der Lage, die Digitalisierung zu stemmen? Ist unser fragmentiertes Gesundheitswesen fähig, kollaborativ zu handeln? Kann das Versprechen im Koalitionsvertrag eingehalten werden? Dort steht: „Wir ermöglichen regelhaft telemedizinische Leistungen inklusive Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen sowie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und die telenotärztliche Versorgung.“

Dass die Digitalisierung nicht im Versorgungsalltag der Bürgerinnen und Bürger ankommt, ist nicht die Schuld einzelner Akteure, sondern deckt vielmehr strukturelle Schwächen unseres Systems auf. In einem so komplexen System wie dem deutschen Gesundheitswesen lässt sich Digitalisierung nicht wie eine Pille verordnen und im Rahmen eines Top-Down-Prozesses durchsetzen. Damit digitale Medizin in Form von E-Rezepten und Videosprechstunden ankommt, benötigt man Leistungserbringer, die über die hierfür notwendigen Kompetenzen und Kapazitäten verfügen.

Telemedizin-Leistungserbringer

Um die mehr als 100.000 Arztpraxen zu digitalisieren, fordern derzeit einige Stimmen ein Praxiszukunftsgesetz. Wie erfolgsversprechend das ist, bleibt offen. Dabei gibt es einfache und effiziente Wege, die Digitalisierung voranzutreiben. Beispielsweise die Koexistenz unterschiedlicher Leistungserbringer – die einen auf physische Medizin spezialisiert, die anderen auf Telemedizin. So könnte sichergestellt werden, dass Telemedizin in der Breite ankommt. Bürgerinnen und Bürger hätten spezialisierte Anlaufstellen und könnten wählen, ob sie digital oder physisch zum Arzt wollen. Zeitgleich würden hochspezialisierte Telemedizin-Leistungserbringer eine erstklassige digitale Medizin garantieren. Schließlich sind telemedizinische Diagnostik und Behandlung komplex und erfordern spezielles Know-how.

Neue, auf digitale Medizin spezialisierte Leistungserbringer wären keine Konkurrenz zu niedergelassenen Arztpraxen, die ja schon heute am Limit und ihren Kapazitätsgrenzen arbeiten. Sie wären vielmehr eine Ergänzung und vor allem eine Entlastung. Insbesondere würden Menschen von einer medizinischen Versorgung profitieren, die zum heute vorherrschenden digitalen Lebensstil passt. Passt sich die Medizin dem modernen Leben nicht an, werden wir Patientinnen und Patienten verlieren. Digitale Kompetenz ist in der Bevölkerung also vorhanden. Die wenigen, die sie noch nicht haben, können ohne Weiteres die niedergelassene Struktur nutzen. Wer weiß, vielleicht gelänge Deutschland mit einer moderneren digitalen Leistungserbringerstruktur doch noch eine Vorreiterrolle.

Andreas Bogusch ist Geschäftsführer des Telemedizin-Anbieters Medgate.

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