Die Notaufnahmen in Deutschland sind hoffnungslos überlaufen und überlastet – oft durch Patienten, die die Rettungsstellen der Krankenhäuser aufsuchen, aber keine wirklichen Notfälle sind. Ihre Beschwerden könnten meist in ambulanten Praxen behandelt werden. Allein die Berliner Rettungsstellen versorgen jedes Jahr 1,3 Millionen Menschen, rund 70 Prozent davon sind ausschließlich ambulante Behandlungsfälle.
Ganz offensichtlich funktioniert die Steuerung der Patienten in die für sie richtige medizinische Versorgungsform, ambulant oder stationär, in Deutschland nicht richtig. Die fehlerhafte Inanspruchnahme der Rettungsstellen ist teuer und verschwendet personelle Ressourcen. Das ist seit Jahren bekannt und doch kam eine Reform der nationalen Notfallversorgung bis vor Kurzem nicht voran. Doch Anfang des Jahres legte das Bundesgesundheitsministerium Eckpunkte für eine Reform der Notfallversorgung vor. Dem ist kürzlich der Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung (NotfallGesetz) gefolgt.
Ausweitung ambulanter Notfallversorgung
Der Referentenentwurf legt einen seiner Schwerpunkte auf den Bereich der niedergelassenen, ambulant tätigen Ärzte, die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und die Leistungen, die diese in der ambulanten Notfallversorgung anbieten. So sieht Lauterbachs Entwurf etwa die digitale Verknüpfung des Patientenservices der KVen unter der Nummer 116117 mit der Nummer 112 für den Rettungsdienst und die Feuerwehr vor. Darüber hinaus sollen die KVen in Zukunft ihre telemedizinschen und aufsuchenden ärztlichen Leistungen ausweiten und durchgängig anbieten.
Flächendeckend sollen an Krankenhäusern Integrierte Notfallzentren (INZ) aufgebaut werden, die die Notfallpraxen der KVen mit den Notaufnahmen verbinden und gemeinsame Tresen, also Anmeldungen zur Ersteinschätzung von Patienten, haben werden. Erkrankte Patienten sollen sich zunächst an die INZ wenden, dort werden sie priorisiert und in die für sie richtige medizinische Versorgung geleitet. Allerdings sollen nicht alle Krankenhäuser ein INZ bekommen.
Maßnahmen für den Notfall bereits erfüllt
Die im Entwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium aufgeführten Maßnahmen gehen teils in die richtige Richtung und viele der an die KVen und die niedergelassenene Ärztschaft adressierten Maßnahmen setzen diese bereits heute schon um. In der KV Berlin zum Beispiel gibt es seit langem einen rund um die Uhr arbeitenden ärztlichen Notdienst, der erkrankte Patienten zuhause aufsucht. Auch ist die Leitstelle der KV Berlin 24/7 besetzt und digital mit der Feuerwehr verknüpft. In der Hauptstadt kommt eine Notdienstpraxis auf 400.000 Einwohner, womit die KV Berlin eine entsprechende international geltende Vorgabe bereits erfüllt.
Ebenso längst Realität bei der KV Berlin wie bei den KVen allgemein ist eine strukturierte und intelligente Steuerung der Patientenströme: Ruft ein Patient die Nummer 116117 an, durchläuft er zunächst eine medizinische Ersteinschätzung und wird danach in die passende Versorgungstruktur verwiesen – das kann ein Krankenhaus sein, eine KV-Notfallpraxis, ein aufsuchender Arzt oder ein telefonisches Beratungsgespräch mit einem Mediziner. Mögliches Ergebnis der Ersteinschätzung kann auch sein, dass eine Behandlung am nächsten Tag beim Hausarzt völlig ausreicht.
Dieses strukturierte Management von Patientenströmen kann als Vorbild für eine optimale Patientensteuerung dienen. Diese ist in jedem Fall Dreh- und Angelpunkt einer Notfallversorgung der Zukunft. Dies nicht genügend zu beachten könnte dazu führen, dass die von Karl Lauterbach geplante Reform nur halb gelingt oder sogar scheitert.
Pflicht zur Patientensteuerung fehlt
Solche Befürchtungen sind angebracht, denn beim Thema Patientensteuerung zeigen sich in Lauterbachs Entwurf Lücken. So fehlt etwa die Festlegung eines verbindlichen Patientenpfades, der Abfolgen in der Patientensteuerung definiert und auch Sanktionen vorsieht, wenn es zu Abweichungen davon kommt. Erkrankte Patienten sollen sich dem Entwurf nach zunächst an die INZ, die erwähnten Integrierten Versorgungszentren, wenden. Doch wenn nicht alle Krankenhäuser ein INZ haben werden, stellt sich die Frage: Was geschieht, wenn ein Patient künftig in die Rettungsstelle eines solchen Krankenhauses geht?
Nach Ansicht der KV Berlin ist die Antwort klar: Solche Rettungsstellen sollten verpflichtet sein, Patienten immer an ein INZ weiter zu verweisen. Es sei denn, es ist ein Notfall. Ist dies aber nicht so, darf auch nicht behandelt werden. Und wenn doch, sollte die Behandlung nicht honoriert werden. Ohne Pflicht zur Patientensteuerung und ohne Sanktionen funktioniert die Notfallversorgung der Zukunft nicht.
Keine klaren Aussagen zur Finanzierung
Karl Lauterbachs Referentenentwurf lässt darüber hinaus ein weiteres grundlegendes Thema aus: Er lässt klare Aussagen zur Finanzierung vieler der geplanten ambulanten Leistungen bei der Notfallversorgung vermissen. Zwar spricht der Entwurf von Vorhaltepauschalen, nennt aber keine konkrete Summe. Es ist also unklar, ob alle Angebote gegenfinanziert werden können. Hier muss man sich Sorgen machen, ob die KV Berlin und andere regionalen KVen die Angebote zum großen Teil aus Mitteln werden finanzieren müssen, die den niedergelassenen Ärzten vorbehalten sein sollten.
Über die Finanzierung hinaus fehlt im Entwurf ein Wort und Bekenntnis dazu, bereits bestehende gute Lösungen in der ambulanten Versorgung zu erhalten. Es sind also, bei allen guten Ansätzen, die der Entwurf enthält, noch viele Fragen offen und wir warten auf Antworten.
Burkhard Ruppert ist Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin.