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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Eine Therapie für die Arzneimittelversorgung

Herbert Lang, Vorstandschef Sanacorp
Herbert Lang, Vorstandschef Sanacorp Foto: promo

Aus der ehemaligen Apotheke der Welt ist für die deutsche Bevölkerung ein Sanierungsfall geworden, schreibt Herbert Lang, Vorsitzender des Vorstands der Sanacorp. In seinem Standpunkt fordert er eine wirtschaftliche Förderung und auch eine Wiederansiedelung der pharmazeutischen Industrie in Europa und Deutschland.

von Herbert Lang

veröffentlicht am 08.03.2023

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Ein gewohntes Bild auf deutschen Straßen: Lastwagen um Lastwagen großer Lebensmitteleinzelhändler versorgen die rund 45.000 Supermärkte mit Waren. Die Regalmeter sind mit unzähligen Produkten verschiedenster Kategorien, Marken und Hersteller gefüllt. Lokale und globale Erzeuger sind präsent und investieren Milliardenbeträge in Image, Marketing und Absatzförderung. Anders sieht es bei der Arzneimittelversorgung aus. Hier sind die Versorgungskette, die Preisgestaltung sowie die Besonderheiten der weltweiten Lieferketten weit weniger bekannt.

Seit Jahrzehnten steht der pharmazeutische Großhandel als Bindeglied zwischen den circa 1200 weltweit produzierenden Pharmaunternehmen und den rund 18.000 deutschen Vor-Ort Apotheken für eine professionelle Arzneimittellogistik. Fast 140.000 Arzneimittel und Gesundheitsprodukte sind für den deutschen Markt zugelassen. Keine Apotheke kann diese Vielfalt zu jeder Tages- und Nachtzeit vorhalten. Der Großhandel ermöglicht den Zugriff auf das gesamte Sortiment, übernimmt einen großen Teil der Lager- und Vorratshaltung für die Apotheken und macht sie dadurch zu Vollsortimentern. Ein deutschlandweites Netz regionaler Logistikzentren und ein hochentwickeltes Lieferkettenmanagement mittels komplexer Algorithmen orchestriert die mehrmals tägliche Belieferung der Apotheken und stellt die Lieferfähigkeit für Patienten und Kunden sicher.

Schon ohne die geopolitischen Herausforderungen der letzten Jahre mussten Großhandel und Apotheken große logistische und wirtschaftliche Belastungen ausgleichen. Der Blick auf die Zahlen im Pharmamarkt trügt dabei. Zwar hat sich der Umsatz in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt und die deutsche pharmazeutische Industrie stellte 2021 Erzeugnisse im Wert von rund 35 Milliarden Euro her – ein Zuwachs von gut sieben Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Aber gleichzeitig sind die Abhängigkeiten von anderen Regionen immer größer geworden: Gut 70 Prozent der Produktionsorte für elementar wichtige Wirkstoffe liegen in Asien. Auch Unternehmen, die Hilfs- und Transportstoffe oder Verpackungsmaterial herstellen haben sich im Laufe der Jahre mehr und mehr aus dem europäischen Wirtschaftsraum verabschiedet. Kurzfristig mag dies wirtschaftlich von Vorteil gewesen sein, doch heute spüren wir die Folgen dieser rein kapitalmarktgetriebenen Perspektive.

Liefer- und Versorgungsengpässe sind kein neu aufgetretenes Phänomen

Lieferengpässe haben unterschiedliche Gründe. Der Großhandel gleicht dies in der Regel durch die mehrmals tägliche Belieferung aus, so dass Kunden und Patienten binnen weniger Stunden die benötigten Produkte erhalten.

In der Arzneimittelversorgung werden heute jedoch aus Engpässen immer mehr Versorgungs- und Lieferausfälle – eine bedenkliche Entwicklung mit Folgen für die Bevölkerung. So lag Ende Februar 2022 die Anzahl an Meldungen für Lieferengpässe bei 654. Seit 2018 (mit Ausnahme von 2021) der höchste Wert eines immer weiter ansteigenden Problems. Umso alarmierender die jüngste Umfrage des Verbands pro Generika, dass man weitere Arzneimittel in Deutschland vom Markt nehmen werde, weil sie nicht mehr kostendeckend produziert werden können.

Wege aus der Krise

Aus der ehemaligen Apotheke der Welt ist für die deutsche Bevölkerung ein Sanierungsfall geworden. Jahr für Jahr hat die Politik den Sparstift angesetzt und mit Kosteneinsparungsinstrumenten reagiert, ohne Prüfung der damit wegfallenden Leistungen und ohne die Frage zu beantworten, was für ein System wir uns eigentlich leisten wollen.

Unsere Bevölkerung wird älter, Krankheitsbilder verändern sich in Häufigkeit und Ausprägung. Um darauf schnell reagieren zu können, benötigt es als Basis ein deutlich flexibleres System, einen optimierten Umgang mit Gesundheitsdaten und wo immer sinnvoll, die Automatisierung von wiederkehrenden Prozessen. Unerlässlich ist ein mit starken Resilienzen ausgestattetes, möglichst diversifiziert aufgestelltes und unabhängiges, gemeinschaftliches Versorgungsnetzwerk. Hierfür benötigen wir sinnvolle Lagerungs- und Bevorratungsstrategien sowie ein engmaschiges Monitoring über die aktuelle Lieferfähigkeit der Arzneimittel. Ohne die wirtschaftliche Förderung zur Stärkung und in Teilen Wiederansiedelung der pharmazeutischen Industrie in Europa und Deutschland wird dies nicht gelingen.

Der Aderlass der Politik am deutschen Gesundheitssystem verursacht enorme Kollateralschäden. Wer nur die Kosten im Blick hat, riskiert die Qualität. Wenn die Gesundheit unser höchstes Gut ist, sollten wir die Strategien nach der bestmöglichen Versorgung ausrichten und nicht nach der billigsten. Wir brauchen ein Rahmenwerk, das die Leistungserbringer wie Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser und auch uns, den pharmazeutischen Großhandel, nicht fortlaufend an ihre Grenzen bringt. Wir brauchen nicht nur eine zielführende Finanzierung des gesamten Systems, auch bessere Strategien und Strukturen sind dringend erforderlich. Kurz: Wenn wir nicht wollen, dass das deutsche Gesundheitssystem kollabiert, ist eine sofortige Therapie notwendig! Denn, wenn die Industrie nicht mehr produziert, wir nicht mehr liefern können oder die Apotheke vor Ort weggefallen ist, nützen die Einsparungen vor allem einem nicht: Dem Patienten.

Dr. Herbert Lang ist Vorsitzender des Vorstandes der Sanacorp eG Pharmazeutische Großhandlung. Das Unternehmen gehört mit mehr als 3000 Mitarbeitern und 19 Standorten zu den größten deutschen Pharmagroßhandelsunternehmen in Deutschland. Die Sanacorp ist eine Genossenschaft und gehört daher den Apothekern. Sie feiert im Jahr 2024 ihr 100-jähriges Bestehen.

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