Die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie war von Beginn an mit der Sorge verbunden, bei einem starken Anstieg lebensbedrohlicher Erkrankungen nicht mehr genug Intensivkapazitäten für alle Patientinnen und Patienten zur Verfügung zu haben. In vielen Ländern weltweit kam und kommt es zu solchen Situationen. Ärztinnen und Ärzte müssen dort ethisch kaum erträgliche Entscheidungen treffen, wem geholfen werden kann und wem sie eine Behandlung versagen müssen.
In Deutschland konnte die überregionale Überlastung der Intensivstationen bislang abgewendet werden. Dennoch treibt die Frage des Umgangs mit einer sogenannten „Triage“-Situation Ärztinnen und Ärzte genauso um wie Bürgerinnen und Bürger.
Zwischen ärztlicher Professionalität und Diskriminierungsverbot
Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen kritisieren die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften. Sie fürchten, im Falle von Knappheit gegenüber Menschen ohne Behinderung oder chronischer Erkrankung beim Zugang zu Intensivbehandlung benachteiligt zu werden, wenn die Zuteilung an medizinischen Kriterien wie der klinischen Erfolgsaussicht anknüpft. Auch alte Menschen könnten von Benachteiligung betroffen sein. Sie fordern daher ein Eingreifen des Gesetzgebers, um Gleichbehandlung sicherzustellen. Ihre Sorge speist sich aus ihren Erfahrungen mit struktureller Benachteiligung im Gesundheitssystem. Sie berufen sich auf das Verbot der Diskriminierung wegen Behinderung, dessen rechtliche Stärkung ein großer Erfolg der Emanzipationsbewegung von Menschen mit Behinderung war.
Ein Teil der Ärztinnen und Ärzte sieht durch die Debatte hingegen ihre Professionalität und ihre berufsethischen Grundsätze in Frage gestellt. Sie fürchten im Falle von gesetzlicher Regulierung Überforderung und Lähmung bei drängendem Entscheidungsbedarf. Andere wiederum fordern vom Gesetzgeber Rechtssicherheit.
Auch der Gesetzgeber ist in der Verantwortung
Dabei greift die Zuspitzung „Entweder medizinische Kriterien oder strikte Gleichbehandlung“ zu kurz. Auch alte, chronisch kranke oder Menschen mit Behinderungen, die einen Risikofaktor für einen schweren Covid-19-Verlauf darstellen, können nach einer intensivmedizinischen Beatmung die Krankheit überstehen. Medizinische Kriterien sind selten eindeutig, strikte Gleichbehandlung ist nicht immer gerecht. Hinter dem Konflikt steht die Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen bislang so gut wie nicht gehört wurden bei diesen Entscheidungen. Sie wurden weder bei der Erstellung der Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften beteiligt, noch kamen sie in dem knappen Fachgespräch des Gesundheitsausschusses zu Wort. Dass gegen die Leitlinien zur „Triage“ eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingereicht wurde, ist auch die Reaktion auf zu wenig Gehör für behinderte Menschen an anderer Stelle. Und auf die Furcht, dass dies in der konkreten Entscheidungssituation im Krankenhaus wieder der Fall sein könnte.
Um sowohl Menschen mit Behinderungen Gehör zu verschaffen, als auch Ärztinnen und Ärzte zu unterstützen, darf sich der Gesetzgeber nicht komplett aus der Verantwortung stehlen. Auch wenn es eine zu hundert Prozent zufriedenstellende Lösung in diesem Dilemma weder für potentiell Betroffene noch für die Ärzteschaft vor dem Schreckensszenario einer Triagesituation geben kann, trägt Stillschweigen sicher nicht zur Vertrauensbildung bei. Eine Befassung des Bundestags mit dieser wesentlichen Frage wäre ein Beitrag dazu, die Involvierten ernst zu nehmen, Menschen mit Behinderung und Ärztinnen und Ärzte. Darüber hinaus könnte die Verabschiedung neuer Leitlinien an eine Anhörung der Verbände behinderter Menschen geknüpft werden. Im konkreten klinischen Entscheidungsverfahren könnte eine verbindliche Prüfung auf Diskriminierungstatbestände vorgesehen werden, zum Beispiel durch Beteiligung einer Beauftragten für Belange von Menschen mit Behinderung.
Die Angst von Menschen mit Behinderungen, im Klinikalltag übergangen und überhört zu werden, reicht weit über die Pandemie hinaus. Wenn wir uns jetzt dieser Situation stellen, kann daraus eine dauerhafte Stärkung der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung entstehen.
Die Medizinerin und Psychotherapeutin Kirsten Kappert-Gonther und die Juristin Manuela Rottmann sind Bundestagsabgeordnete der Grünen und Mitglieder des Gesundheitsausschusses.