Der neue § 5c Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes soll lauten: „Eine ärztliche Entscheidung über die Zuteilung von pandemiebedingt nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten (Zuteilungsentscheidung) darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden. Komorbiditäten dürfen nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern.“
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Dezember festgehalten, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Grundrechtsgefährdungen und -verletzungen entgegenzutreten, die sich gerade aus den aktuellen Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften zur Triage ergeben können. Der Bundestag müsse „dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird.“
Mit dem für die Ampelkoalition angefertigten Entwurf scheint das Haus Lauterbach stattdessen bereit zu sein, die Diskriminierung behinderter (und alter) Menschen zu legalisieren und auszuweiten. Die „Komorbiditäten“, die „die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern“, sind in aller Regel ja gerade jene chronischen Krankheiten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die die Behinderung der Betroffenen ausmachen. Jede Form des Abstellens auf die relative, also auch die kurzfristige, „Erfolgsaussicht“ des Einsatzes knapper medizinischer Ressourcen muss mit Notwendigkeit vulnerable Patientengruppen diskriminieren: Menschen, die zu behindert, zu alt und deshalb zu „komorbid“ sind, um optimale Ergebnisse zu garantieren.
Strukturell diskriminierend
Dabei ist es durchaus bemerkenswert, dass der Entwurf vorsieht, dass bei der Zuteilungsentscheidung niemand wegen seiner „Gebrechlichkeit“ oder wegen seines „Alters“ diskriminiert werden darf. Das ist freilich im Ergebnis nicht viel wert, weil es in der internationalen medizinischen Diskussion weitgehend außer Frage steht, dass die starken Gesundheitsbeeinträchtigungen, die Personen aufweisen, die aus Alters- oder aus anderen Gründen – etwa wegen ihrer Behinderung – „gebrechlich“ sind, in aller Regel eben auch zu einer deutlich schlechteren „kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ auf der Intensivstation führen. Und dies ist nach dem Gesetzesentwurf in der pandemiebedingten Knappheitssituation ein Todesurteil.
Dabei bleibt der Entwurf aber nicht stehen. Bisher galt es nach nahezu allgemeiner Überzeugung als strafbar, Patient:innen, die bereits mit einem Beatmungsgerät versorgt werden und Rettungschancen haben, gegen (oder ohne) ihren Willen vom Gerät zu trennen und sterben zu lassen, um gesünderen (und in der Regel jüngeren) Patient:innen mit noch besserer „kurzfristiger Überlebenswahrscheinlichkeit“ Platz zu machen. Nun soll – wie man hört, auf Betreiben der FDP – ausdrücklich auch diese „ex-post-Triage“ (die „Zuteilungsentscheidung bei bereits zugeteilten pandemiebedingt nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten“) erlaubt werden. Es wird interessant sein zu sehen, ob die deutschen Ärzt:innen diese Zerstörung der Vorstellung, dass sie mit Beginn einer Behandlung individuelle Verantwortung für ihre Patientin oder ihren Patienten übernehmen, hinnehmen werden.
Bei diesen Vorgaben sind die im Entwurf vorgesehenen verfahrensmäßigen Sicherungen weitestgehend wertlos. Für die Entscheidung zur Zurücksetzung behinderter, alter, gebrechlicher und deshalb komorbider Menschen wegen ihrer relativ schlechteren „kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ bei Beginn der Intensivtherapie werden zwei erfahrene Fachärzt:innen benötigt; will man solchen Patient:innen das lebensrettende Beatmungsgerät wieder wegnehmen, sollen es zumindest drei sein, die freilich alle denselben Richtlinien folgen. Das Gesetz wird deshalb keine praktischen Auswirkungen auf die Triagepraxis in deutschen Kliniken haben, die im Ernstfall strukturell diskriminierend sein wird.
Fundamentale Entsolidarisierung
Der Gesetzesentwurf ist eine Farce, die hinter der dünnen Fassade, es gehe darum, den „gleichberechtigten Zugang aller intensivmedizinisch behandlungsbedürftiger Patientinnen und Patienten zur medizinischen Versorgung“ und einen „effektiven Schutz vor Diskriminierung zu gewährleisten“, im Ergebnis das Lebensrecht behinderter, alter und kranker Menschen in „tragischen“ Knappheitssituationen systematisch abwertet. Der Entwurf dokumentiert eine fundamentale Entsolidarisierung. Würde der Entwurf tatsächlich Gesetz, bräche die Ampelkoalition mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass – wie das Bundesverfassungsgericht seit jeher betont – „jedes menschliche Leben als solches gleich wertvoll“ ist und durch das Würde- und das Lebensgrundrecht „die biologisch-physische Existenz jedes Menschen [...] unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit […] geschützt“ wird.
Sollte das Gesetz kommen wie im Entwurf vorgesehen, hätte das Gericht bald wieder Gelegenheit, den Bundestag und die beteiligten Ministerien daran zu erinnern, dass Grundrechte zu schützen und Grundrechtsschutz nur vorzuspiegeln nicht dasselbe ist.
Thomas Gutmann ist Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Universität Münster.